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Politik: Schon die Aussicht, Mitglied der EU zu werden, fördert die zivile Demokratie in der Türkei (Kommentar)

Nun wird frischer Wind in die türkische Politik kommen, und meine Kinder haben eine sichere Zukunft", kommentierte ein ehemaliger türkischer Minister die EU-Entscheidung für den Kandidatenstatus der Türkei. In den türkischen Medien wird auf die Helsinki-Entscheidung nicht nur mit Euphorie, sondern auch mit erstaunlichem Realismus reagiert: Sie betonen, welch schwerer Weg der Türkei bis zur EU-Mitgliedschaft noch bevorsteht.

Nun wird frischer Wind in die türkische Politik kommen, und meine Kinder haben eine sichere Zukunft", kommentierte ein ehemaliger türkischer Minister die EU-Entscheidung für den Kandidatenstatus der Türkei. In den türkischen Medien wird auf die Helsinki-Entscheidung nicht nur mit Euphorie, sondern auch mit erstaunlichem Realismus reagiert: Sie betonen, welch schwerer Weg der Türkei bis zur EU-Mitgliedschaft noch bevorsteht. Aber diejenigen in Europa, die hoffen, dass die Türkei ohnehin nicht die Kopenhagen-Kriterien erfüllen und deshalb nicht Mitglied werden könne, dürften sich täuschen. Denn jetzt wird es hier in der Türkei einen politischen Reformschub geben, weil die Anhänger des Status quo in der Defensive sind. Alle Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft, Medien und auch Militär wissen, dass dies die letzte Chance für die Türkei ist auf ihrem langen Weg nach Europa.

Nicht nur die Türkei braucht Reformen. Auch die EU muss sich grundlegend reformieren, um die zahllosen Neumitglieder verkraften zu können. Schon mit der Mitgliedsperspektive für Polen hätte die EU über die künftigen Grenzen Europas und ihre Haltung zur Ukraine nachdenken müssen und nicht erst seit dem Kandidatenstatus der Türkei. Bei 12 oder gar 13 neuen Mitgliedern wird man auf die Idee der konzentrischen Kreise mit einem Kerneuropa als Zentrum zurückgreifen müssen. In solch eine EU-Struktur passt auch die Türkei, deren Mitgliedschaft aus strategischen und geopolitischen mindestens so wichtig für die EU ist wie die der baltischen Staaten, Rumäniens oder Maltas.

Schon Monate vor dem Helsinki-Gipfel hat die jetzige Regierungskoalition unter Ministerpräsident Ecevit mit Reformen begonnen: Die Strafen für Folter und Folterärzte wurden drastisch erhöht, Straftaten von Beamten, wie z. B. Korruption oder Folter, werden zügig verfolgt, Menschenrechtler und Journalisten wurden freigelassen. Übergriffe von Mitarbeitern der Polizei, Staatsanwaltschaft und Sicherheitsbehörden werden verfolgt und bestraft.

In der Provinz Siirt im kurdischen Südosten der Türkei wurde der Ausnahmezustand aufgehoben, wie vorher schon in einigen anderen Provinzen auch. Es besteht die realistische Hoffnung, dass dies bis Ende des kommenden Jahres in allen Provinzen möglich sein wird, weil die terroristische PKK ihre gewaltsamen Angriffe eingestellt hat. Mit der Aufhebung des Ausnahmezustandes, der den Sicherheitskräften Sondervollmachten gibt, wäre eine entscheidende Ursache für Menschenrechtsverletzungen beseitigt.

Vorrangig ist jetzt, dass künftig politische missliebige Meinungsäußerungen nicht mehr mit Gefängnis und missliebige Politiker nicht mehr mit Betätigungsverbot bestraft werden können. Dies wird erleichtert durch eine Reform der bisherigen Verfassung von 1982, die noch wesentlich von den Militärs beeinflusst ist. Die türkische Regierung hat deshalb bereits eine Reform der Verfassung und des Justizsystems sowie die Abschaffung der Todesstrafe angekündigt.

Nicht nur der innere Friede in der Türkei stabilisiert sich, auch die türkisch-griechischen Beziehungen haben sich verbessert. Der griechische Ministerpräsident Simitis wird im neuen Jahr die Türkei besuchen. Es besteht also die Hoffnung, dass diese langwierigen Konflikte zwischen beiden Ländern friedlich gelöst werden können. Die EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Türkei fördert diesen Prozess.

Die wichtigste Folge des Kandidatenstatus wird aber sein, dass die Türkei nunmehr permanent in den politischen Diskurs in Europa einbezogen und zum politischen Dialog gezwungen ist. Anregungen und Kritik aus Europa kann sie jetzt nicht mehr als Einmischung in die inneren Angelegenheiten oder als Böswilligkeit abtun. Jetzt muss sie, so wie Europa auch, politisch Farbe bekennen.

"Ob wir am Ende wirklich Mitglied der EU werden, ist gar nicht wichtig", sagt mir ein hochrangiger türkischer Gesprächspartner. "Wichtiger ist, dass wir die erforderlichen Reformen für unser Land und für unsere Bürger realisieren können und endlich die europäischen Standards erreichen. Ob wir EU-Mitglied werden, ist für mich dann nur noch eine sekundäre Frage." Die EU-Befürworter in der Türkei und die Türkei-Gegner in Europa wären sich dann wieder einig.Der Autor leitet die Vertretung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara.

Wulf Schönbohm

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