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Politik: „Schritt für Schritt in den Gottesstaat“

Istanbul - Heidi betet zu Allah, und auch Pinocchio erbittet „um Allahs Willen“ ein Stück Brot: Gegner der islamisch angehauchten Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in der Türkei glauben fast täglich neue Hinweise auf eine Kampagne zur Islamisierung der Gesellschaft zu entdecken. Jüngstes Beispiel sind weltbekannte Kinderbuchfiguren, die in neuen – und vom Bildungsministerium in Ankara empfohlenen – Ausgaben plötzlich als fromme Muslime auftreten.

Istanbul - Heidi betet zu Allah, und auch Pinocchio erbittet „um Allahs Willen“ ein Stück Brot: Gegner der islamisch angehauchten Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in der Türkei glauben fast täglich neue Hinweise auf eine Kampagne zur Islamisierung der Gesellschaft zu entdecken. Jüngstes Beispiel sind weltbekannte Kinderbuchfiguren, die in neuen – und vom Bildungsministerium in Ankara empfohlenen – Ausgaben plötzlich als fromme Muslime auftreten. „Schritt für Schritt in den Gottesstaat“ wolle Erdogan marschieren, kommentierte die regierungskritische Tageszeitung „Cumhuriyet“. Eine generalstabsmäßig geplante Islamisierungskampagne der Regierung gibt es zwar nicht, wohl aber einen wachsenden Gegensatz zwischen der religiös geprägten Regierung und ihren Anhängern auf der einen und den Säkularisten auf der anderen Seite.

Fünf Jahre nach ihrer Gründung sieht sich Erdogans Regierungspartei AKP mehr denn je dem Vorwurf ausgesetzt, sie rüttle an den Grundfesten der laizistischen Republik. Regierungsgegnern zufolge ist dies mehr und mehr im Alltag zu beobachten. Er habe sogar schon gehört, dass Grundschüler bei Rechenaufgaben heute Minarette statt Äpfel zählen müssten, berichtete der Chefredakteur der liberalen Tageszeitung „Radikal“, Ismet Berkan. Erdogans Partei sorgte in den letzten Jahren mit Versuchen für Schlagzeilen, mancherorts den Alkoholausschank verbieten zu lassen. Im Frühjahr wollte der Premier einen islamischen Banker zum neuen Zentralbankchef machen, scheiterte aber am Veto des Staatspräsidenten.

Der wachsende innertürkische Streit geht einher mit dem Bemühen der Regierung, die Beziehungen zu arabischen Staaten zu verbessern. Dagegen hat sich das Verhältnis der Türkei zur EU stark abgekühlt. Westliche Diplomaten in Ankara bringen das mit der Kopftuchfrage in Zusammenhang. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte das in der Türkei geltende Kopftuchverbot an Universitäten bestätigt. Die EU-Bewerbung will die Türkei aber nicht aufgeben, sondern die Beitrittsverhandlungen bereits in sechs Jahren abgeschlossen haben.

Innenpolitisch sind die Spannungen eine Folge gesellschaftlicher Veränderungen. In den vergangenen Jahren ist ein islamischer Mittelstand entstanden, der eigene Vorstellungen von Geschmack und Schicklichkeit hat. Luxushotels boomen, die Geschlechtertrennung am Pool, Alkoholverbot und Einhaltung anderer islamischer Vorschriften anbieten. Ausgelöst wurden diese Veränderungen vor allem durch die wirtschaftliche Erholung seit dem Krisenjahr 2001. Die AKP ist weniger Initiator als Nutznießer dieser Entwicklung.

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