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Politik: „Schule erzeugt Verlierer“

Kriminologe Pfeiffer zu Prävention und Jugendschutz

2002 Erfurt, 2006 Emsdetten – was läuft falsch an deutschen Schulen?

Es läuft nicht nur etwas an deutschen Schulen falsch, es läuft in drei Bereichen falsch. Erstens: Die Familien kümmern sich zuwenig darum, was ihre Kinder in Kinderzimmern treiben. Zweitens: In den Schulen erzeugen wir zu viele Verlierer. In der Sitzenbleiber- und Abbrecherquote sind wir Europameister. Drittens: Wir haben keinen effektiven Jugendmedienschutz. Wenn schon 50 Prozent der 10-Jährigen zumindest gelegentlich mit Spielen umgehen, die erst ab 16 freigegeben sind, und ein Fünftel regelmäßig solche Spiele spielt, wenn vier Fünftel der 14- und 15-Jährigen Spiele benutzen, die für Erwachsene vorgesehen sind, dann ist etwas faul.

Ist das nicht auch ein Problem der Kontrollmechanismen?

Ich gebe der Unabhängigen Selbstkontrolle, der USK, schon eine Mitschuld. Sie vergibt zu großzügig Altersfreigaben. Zu selten werden Spiele für die Bundesprüfstelle freigegeben, damit sie diese indizieren darf. Wir gestatten zu oft, dass extreme Gewaltexzesse für Jugendliche erreichbar sind und durch die Altersfreigabe ab 16 geradezu einen Adelstitel bekommen.

Aber kann eine offene Gesellschaft tatsächlich verhindern, dass sich in ihrem Schatten derartige Einzelgänger entwickeln?

Er ist so nicht geboren, er ist so geworden. Man muss früher die Ohren aufsperren, wenn Kinder solche Signale aussenden, wie es dieser Junge schon seit Jahren getan hat. Er hat schon vor langer Zeit im Internet ausdrücklich um Hilfe gerufen, aber niemand hat es ernst genommen.

Verlassen sich Lehrer allzusehr aufs Elternhaus und das Elternhaus zu sehr auf die Lehrer – mit dem Ergebnis, dass am Ende beide versagen?

Unser Problem ist, dass unsere Schule zu sehr auf Wissensvermittlung setzt und zu wenig auf soziales Lernen. Die Nachmittagsgestaltung der Schulen müsste unter der Überschrift „Lust auf Leben wecken“ stehen. Wir vermitteln den Kindern zu wenig Möglichkeiten zum Austoben und bieten ihnen damit zu wenig Anerkennungs- chancen. Nicht alles ist intellektuelle Welt: Wer schlecht in der Schule ist, kann als Schultorwart oder als Tischtennisspieler brillieren. Man muss die Stärken der Kinder suchen und sie an der Stelle aufbauen, wo sie Perspektiven haben.

Sehen Sie das auch als ein Problem des Schulsystems an?

Schon bei der frühen Aufteilung der Kinder auf Hauptschule, Realschule oder Gymnasium sind wir auf einem falschen Kurs, weil die Hauptschüler zu diesem Zeitpunkt schon mitgeteilt bekommen, dass sie Verlierer sein werden.

Das Gespräch führte Matthias Schlegel

Christian Pfeiffer (62) ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover. Von 2000 bis 2003 war er Justizminister des Landes Niedersachsen.

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