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Politik: Sechs Jahre nach dem Völkermord von Ruanda sind 125 000 Täter eingesperrt

Mit ihrer Verurteilung kommt die Justiz nicht nach. Jetzt sollen Dorfgerichte die Verbrechen sühnen.

Mit ihrer Verurteilung kommt die Justiz nicht nach. Jetzt sollen Dorfgerichte die Verbrechen sühnen.Ingrid Müller

Geradezu aufdringlich stehen die Bügelfalten auf dem frischen Hemd. Breit lächelt sein Träger hinter den Brillengläsern und bittet mit einladender Geste zum Rundgang. Besuch im Zentralgefängnis von Ruandas Hauptstadt Kigali, eine Führung der besonderen Art. Der Mann ist nicht der Direktor, das Rosa seiner Kleidung weist ihn aus: Er ist einer der rund 8400 Häftlinge. Die Anschuldigung gegen ihn: Beteiligung am Völkermord.

Fast sechs Jahre ist es her, dass die Welt fassungslos das Schlachten in dem kleinen ostafrikanischen Land verfolgte. Rund eine Million Menschen - meist Tutsi und eine Reihe oppositioneller Hutu - wurden damals bestialisch von der aufgestachelten Hutu-Mehrheit umgebracht. Manche wurden erschossen, die meisten mit Macheten und Hacken zerstückelt. 125 000 Menschen sitzen noch immer in den Gefängnissen, die meisten warten weiter auf ihren Prozess. Auch der frühere Telefon-Manager. Ist der wohlgenährte Mann mit den makellos weißen Turnschuhen einer der Mitläufer oder einer der Planer des Völkermords?

Neben dem kräftigen Führer, den nur die rosa Farbe seiner Kleidung als Häftling ausweist, sieht Direktor Isidor Gahamanyi in seiner angeschmuddelten blaugrauen Hose und dem gemusterten Hemd aus wie ein ärmlicher Besucher. Ein bisschen ist es wohl auch so. Denn hinter dem Portal organisieren die Gefangenen ihre Ordnung selbst. Die Aufgabe würde die 100 Wärter überfordern.

"Die kennnen sich untereinander, wir nicht", sagt Direktor Gahamanyi. Die Sprecher der Häftlinge entscheiden auch, wer zum Arbeitseinsatz den wuchtigen Backsteinbau aus Kolonialzeiten verlassen darf. Früh am Morgen kauern etwa 1000 Männer in Reih und Glied in ihren kurzen rosa Hosen und Hemden in der Hocke im rotbraunen Staub der Auffahrt, je vier in einer Reihe. Auf Kommando erheben sie sich und klettern auf die Ladefläche eines bulligen Lasters - ein paar Stunden Freiheit von der Enge.

Die hat sie wieder, wenn der Truck sie am Abend zurückbringt. 8000 Männer und Frauen in einem Bau für 2000 Menschen. Hinter dem Eingangstor gibt es keine langen Gänge, keine Gitter, keine Zellen - nur Menschen. Augenpaar neben Augenpaar. Männer, wohin das Auge blickt. Sie stehen unter freiem Himmel, sie hocken im prasselnden Regen im Innenhof unter durchhängenden Plastikplanen. Ihre wenigen Habseligkeiten baumeln an den Wänden des Hofes in unzähligen hauchdünnen Plastiktüten. Apathisch wirken die Menschen, die Blicke sind stumpf. Sind das die Mörder, die ihre Nachbarn im Blutrausch erschlagen, Kinder mit dem Hackmesser zerstückelt haben?

Die Masse teilt sich fast lautlos. Eine schmale Gasse entsteht. Am Boden hockt einer, der mit einem Messer an einem Stück Holz herumschnitzt, andere nähen Schuhsohlen, einige der Männer stricken. Durch die Gasse geht es ins Innere des Gebäudes, hin zu höhlenartigen Boxen, den begehrten Schlafplätzen im Gebäude. Sie erinnern an Kaninchenställe, drei Stockwerke übereinander, knapp 50 Zentimeter Gang dazwischen, von überall her schauen Augenpaare aus dem Dunkel. Wer hier Mann an Mann (oder im anderen Block Frau an Frau) untergekommen ist, hat Glück, kann zwischendurch liegen, seine paar Habseligkeiten wie den Napf für die paar hundert Gramm Bohnen und Mais am Tag im Trockenen ablegen.

"Wer zu spät kommt", sagt die Sprecherin der Frauen und zuckt vielsagend mit den Schultern. Beim Blick auf ihre goldglänzenden Ketten und Ringe fällt es schwer zu glauben, dass das die ganze Erklärung für die interne Organisation ist. Seit drei Jahren sitzt sie im Kerker. Sie soll zu jenen gehören, die das Grauen geplant und selbst gemordet haben. Unschuldig sei sie, sagt sie. Früher war sie Parlamentarierin, heute gehört sie zu jenen, die hier drinnen das Sagen haben.

Die Angst vor der Rache

Direktor Gahamanyis Reich ist ein karges Büro ein paar Schritte jenseits der Backsteinmauer mit ihren teils eingesunkenen Zinnen. An der Kopfseite des Raums steht eine überdimensionale Tafel: das Gefängnis in Zahlen. 7955 des Genozids Verdächtige weist die Schrift in weißer Kreide aus, nur 942 davon geständig. 20 Kinder unter vier Jahren leben hier bei ihren Müttern. Die meisten Häftlinge sind zwischen 18 und 54 Jahre alt. Ein scheinbar gebändigtes Chaos präsentiert Gahamanyi.

Für 780 Angeschuldigte existiert noch nicht einmal eine fertige Akte, sagt die Tafel. Nur Wenige sind verurteilt: 16 Todesurteile, 35 lebenslange Haftstrafen, 33 Strafen zwischen einem und 20 Jahren - 88 Verfahren in der Berufung.

Fast sechs Jahre, eine lange Zeit und eine kurze zugleich in einem Land, das während des Völkermords auch fast all seine Juristen verlor. In Crash-Kursen sind inzwischen eine Reihe von Nachwuchskräften ausgebildet worden. Aber selbst eine voll funktionierende Justiz würde etwa 200 Jahre brauchen, um alle Verfahren abzuschließen.

Um das scheinbar Unmögliche möglich zu machen, soll nun eine alte Tradition helfen. Die Regierung in Kigali will die dörflichen Schiedsgerichte wiederbeleben, die sogenannten Gacaca. Früher wurden von ihnen Kleinkriminelle abgeurteilt und Familienstreitigkeiten geschlichtet. Nun sollen Laienrichter, die aus der Mitte der Gemeinschaft gewählt werden, über die Täter am Ort ihrer Tat in öffentlichen Verhandlungen richten. Je nach Schwere des Vorwurfs werden je 20 Richter auf den verschiedenen Verwaltungsebenen bestimmt - von der so genannten Zelle mit jeweils etwa 100 Haushalten bis zur großen Gemeinde. Auf der untersten Ebene sollen sich die verantworten, die während des Genozids ihren Nachbarn Vieh gestohlen oder Besitz zerstört haben. Die Gacacas in den 154 Gemeinden sollen auch über Mörder urteilen.

Vizepräsident Paul Kagame, der starke Mann Ruandas, wünscht sich, dass die Gacaca Teil des Versöhnungsprozesses im Lande wird. Er geht davon aus, dass dort 60 bis 70 Prozent der Verdächtigen der Prozess gemacht wird und die Verfahren dazu führen, dass die Häftlinge schneller freigelassen werden. Nur die Planer und Drahtzieher des Völkermords sollen nicht vor die Laiengerichte gestellt werden. "Wenn jemand bei der Gacaca freigesprochen wird, ist es für die Menschen akzeptabel," meint Kagame. Spreche ein normales Gericht jemanden frei, würde er bei der Rückkehr unter Umständen "eingesperrt oder sogar umgebracht", sagt er. Doch was aus dem Munde des bedächtig formulierenden Verteidigungsministers Kagame so eindeutig klingt, ist keineswegs für alle schon ausgemachte Sache.

Die Meinungen darüber, welche Funktion die Laiengerichte haben sollen, gehen weit auseinander. Rose Uwimana, die Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation "Vereinigung der Freiwilligen für den Frieden", glaubt nicht, dass sich die Gefängnisse des Landes bald leeren werden. Die Verhandlungen an den Tatorten seien dafür da, "auch Schuldige zu finden, die noch frei sind. Die Gacaca wird endlich Klarheit schaffen", hofft sie. "Vielleicht steigt die Zahl der Schuldigen sogar noch. Aber dann wissen wir, dass die Richtigen sitzen."

Mitleid, das keiner versteht

Viele Fragen sind offen. Ist es zumutbar, dass der Angeklagte ohne Verteidiger vor seine Richter treten soll? Schüchtert der öffentliche Prozess den Beschuldigten nicht zu sehr ein? Wer klärt die Beteiligten über ihre Rechte auf? Wird es private Rachefeldzüge geben, wenn Mörder, die wegen eines Geständnisses die halbe Strafe erlassen bekommen, nach Anrechnung der abgesessenen Zeit schon bald freikommen könnten?

Die kritische internationale Gemeinschaft, die solche Fragen gerne stellt, weiß auch keine Antwort. Und das internationale Tribunal im tansanischen Arusha hat gerade mal eine Handvoll Verfahren abgeschlossen.

Stumm klagen derweil in den zahllosen Gedenkstätten überall im Lande die Schädel und Knochen der Opfer an. In Ntarama etwa, wo im April 1994 mitten im Ort 5000 Frauen, Männer und Kinder von wütenden Horden umgebracht wurden - in und um die Kirche, in die sie sich geflüchtet hatten. Die Granatenlöcher unter den Fensteröffnungen lassen die Ängste ahnen, die die zusammengepferchten Menschen in ihren letzten Stunden ausgestanden haben müssen. Durch die Einschusslöcher im Dach fällt das Licht auf zerbeulte Töpfe, Becher, Teller und Matratzen der Opfer.

Die beiden Gebäude tragen noch die Spuren des Todeskampfs der Menschen, unter einem Wellblechdach wenige Meter weiter sind in Reih und Glied Tausende Schädel aufgebahrt. Nebenan spielen Kinder.

Wie geht ein Dorf mit dieser Vergangenheit um? "Wir leben mit den Rückkehrern wieder zusammen", sagt Marc Nsabimana. "Wenn ich jemanden nicht gesehen habe, wie er gemordet hat, ist das kein Problem." Der 52-Jährige wacht über das inzwischen eingezäunte Areal und das Gästebuch.

Ruandas Regierung bemüht sich, die Bevölkerung wieder zu einen. Nie wieder soll es einen Konflikt Hutu - Tutsi geben. Alle acht Millionen Menschen sollen sich als Ruander verstehen, als ein Volk. Sich aus dem Weg zu gehen, ist in diesem kleinen Land ohnehin nicht möglich.

Die Anstrengungen scheinen erste Erfolge zu zeitigen. Doch niemand kann wohl voraussagen, was Zusammenleben in einem Land heißt, in dem so viele Menschen traumatisiert sind. Kinder haben mit ansehen müssen, wie ihre Väter zerstückelt wurden, Mütter sahen, wie ihre Kinder zu Tode geprügelt wurden. Unzählige Frauen sind vergewaltigt worden. So fröhlich viele Menschen in Ruanda in diesen Tagen wirken - spätestens zum Jahrestag des Mordens im April werden die seelischen Wunden wieder aufbrechen. Ärzte werden dann wieder vielen Patienten nur mit Beruhigungstabletten helfen können - denn Psychologen für die von Erinnerungen gepeinigten Opfer sind rar.

Denkt angesichts dieser Schrecken jemand an die Mörder in den Gefängnissen? Für viele Ruander ist das völlig unverständlich. "Die internationale Gemeinschaft hat Mitleid mit den Gefangenen, aber nicht mit den Opfern", schimpft Oswald Rutimburana, der im Sommer 1994 aus dem Exil in Uganda zurückkam. Damals habe die Welt zugeschaut, heute helfe sie zu wenig beim Aufbau der Justiz, meint er.

Doch es wird der Welt kaum möglich sein, sich nicht über die Gefängnisse und die Zustände dort Gedanken zu machen. Denn egal, ob es mit der Gacaca vorangeht: Optimisten schätzen, dass auch im Jahr 2005 noch immer 60 000 Menschen in ruandischen Gefängnissen sitzen werden, heißt es im Bericht des Sonderbeauftragten der UN-Menschenrechtskommission vom Herbst.

Nur wenige hundert Meter vom Zentralgefängnis in Kigali entfernt entsteht unterdessen das neue Gesicht Ruandas. Ruinen sind selten geworden, die Hauptstadt ist eine große Baustelle. Am Boulevard del Umuganda türmen sich Ziegel und Sandberge, hämmern und sägen die Bauarbeiter um die Wette. Das 1994 zerschossene Parlamentsgebäude ist weitgehend renoviert, die Post hat erst vor ein paar Wochen ihr neues Gebäude eingeweiht. Der Blick über die Hügel streift zahlreiche schmucke Villen. Rund um die Chaussee Giti ist eine Eigenheimsiedlung entstanden - umgerechnet 90 000 Mark kosten die Drei-Zimmer-Häuschen mit Terrasse und Garten. Nebenan stehen die ersten Appartmenthäuser des Landes. An der Avenue des Milles Collines drängeln sich am späten Nachmittag die Besucher des Internet-Cafes. Und in vielen Restaurants der Hauptstadt ist das vertraute "Biep, biep" zu hören - das Handy gehört an fast jedem Tisch dazu.

Ein spannender Spagat zwischen Tradition und Moderne - und ein Vorhaben ohne Vorbild. Gelingt der Plan mit der Gacaca, werden vielleicht auch viele der bisherigen Häftlinge zum Wiederaufbau beitragen, denn Gemeinschaftsarbeit soll einen großen Teil der Strafen ausmachen. Noch verschlingt der Unterhalt der Gefängnisse jedes Jahr vier Prozent des Staatshaushalts.

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