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Politik: Sehnsucht nach dem verlorenen Traum

TAG DER PROTESTE

Von Robert Birnbaum

Es wäre nicht besonders schwer, sich die Sache leicht zu machen. Wenn an diesem Wochenende Tausende, Zigtausende, wer weiß, vielleicht europaweit Millionen den Aufrufen zum Anti-Reform-Protest folgen, dann könnten wir kopfschüttelnd Unverständnis bekunden: Was bitte wollen diese Leute? Dass alles wieder werde wie in guten alten Zeiten? Dass die Globalisierung aufhören möge? Könnten sie nicht genauso gut fordern, dass der Mond seine Umlaufbahn ändern solle, damit wir häufiger in hellen Vollmondnächten lustwandeln können? Dem Mond ist aber der Krawall egal. Der Globalisierung auch.

So einfach könnten wir es uns also machen, und es wäre nicht einmal ganz falsch. Massenkundgebungen in der Geschichte der Republik hatten immer Ziele. Die mögen seinerzeit utopisch erschienen sein wie der Kampf gegen die Atomkraft oder partikularistisch wie der von Medien und Opposition angezettelte Groll gegen die Ökosteuer. Aber ihre Protagonisten wussten, was sie wollten.

Der Protest hingegen, der sich am Sonnabend artikulieren wird, hat etwas eigentümlich Hilf- und Richtungsloses. Der Aufruf des DGB kreist um Begriffe wie „unsozial“ und „Korrekturen“, er ruft zum Kampf gegen „marktradikale Politiker und Unternehmer“ und „Umverteilung von unten nach oben“. Alles Formeln aus dem Wörterbuch der fetten Jahre. Dahinter steht blanke Ratlosigkeit. „Aufstehen, damit es endlich besser wird“ heißt das Motto der Gewerkschaften für den Kampftag – es klingt stark nach Appell an den Mond.

Wir sollen es uns aber nicht so einfach machen. Jeder von denen, die da auf der Straße sein werden – und egal, ob es am Ende viele oder wenige sind –, hat ein ernstes Anliegen. Der Rentner, dem unruhig wird um den Ruhestand. Der Schüler, der „Kürzen“ nicht erst in der Bruchrechnung kennen lernt. Der Arbeitslose, unvermittelbar, der Arbeiter, dessen Firma eine neue Produktion in Ungarn eröffnet. Sie treibt die Angst, dass es nicht endlich besser wird, sondern immer schlechter.

Die Angst ist berechtigt. Darum ist der Protest berechtigt. Verquer ist er trotzdem. Die Leute wissen das übrigens selbst sehr gut. Man frage 1000 Bürger, ob sie eine Verlängerung der Arbeitszeit um zwei Wochenstunden richtig finden, und man wird eine Mehrheit dagegen bekommen. Man frage die gleichen 1000 Bürger, ob sie persönlich fünf Stunden pro Woche umsonst länger arbeiten oder ihren Job an 1000 polnische Kollegen verlieren wollen – die Mehrheit wird genau so eindeutig sein, nur andersherum. Abstrakt ist jeder gegen Kürzungen, Reformen, Einschnitte. Konkret erkennen alle an, dass es nicht anders geht. Die Leute sind also klug: Sie stellen keine Blankoschecks aus, billigen aber konkrete Reformen, wenn die Abhilfe versprechen.

Zum Protest „gegen Reformen“ zu rufen, ist darum wohlfeil. Zum Protest gegen „unsoziale Reformen“ zu rufen, ist bösartig. Es ignoriert nämlich kurzerhand das Ausmaß der Krise. Noch so gerechte, noch so ausgewogene Politik, noch so patriotische Unternehmer ändern nichts daran, dass unser altes Deutschland in einer neuen Welt ums Überleben kämpft. Siemens soll nicht Handys in Billiglohnländern bauen? Na prima, warten wir ab, bis Samsung den Laden aufkauft. Oder der Mond uns doch noch erhört.

Und trotzdem. Obwohl viele der Gewerkschaftsfunktionäre, die da zur Demonstration rufen, nicht aufs Rednerpult gehören, sondern selbst auf die Anklagebank, weil sie auch bloß jene eigensüchtige Klientelpolitik betreiben, die sie den Unternehmen vorwerfen. Obwohl die Anklage auch sonst viel Falsches und viele Falsche trifft. Und trotzdem steckt in dem Protest etwas Richtiges. Es ist das Gefühl, dass die da oben auch nur mittels Versuch und Irrtum an Symptomen herumdoktern, und zwar egal ob sie Schröder heißen oder Merkel. Dagegen hilft nicht die viel beschworene Vermittlung von Reformen. Das Misstrauen sitzt tiefer. Früher haben deutsche Demonstranten für ihren Traum von Zukunft gekämpft: Ohne Atom, ohne Krieg, ohne DDR. Diese protestieren, weil ihr Traum von Zukunft abhanden gekommen ist. Nein, dagegen gibt es keine einfachen Rezepte. Nur: Leicht nehmen kann das niemand.

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