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Politik: Sein Maß aller Dinge

Von Martin Gehlen

Der Ton ist gut gesetzt, der Inhalt überzeugt. Die erste Enzyklika von Papst Benedikt XVI. ist zu einem Meilenstein geraten – in der Definition der Aufgaben von Christen in Politik und Gesellschaft, in der Selbstvergewisserung kirchlichen Handelns, aber auch in Rückfragen an die eigene Adresse. Mit seinem knapp gehaltenen Lehrschreiben „Deus caritas est“ legt der 78-Jährige neun Monate nach seiner Wahl jetzt eine Art Regierungserklärung für sein Pontifikat vor. Und er rückt darin den Einsatz für Gerechtigkeit und die Fähigkeit zur menschlichen Anteilnahme als fundamentale christliche Aufgaben in den Mittelpunkt. Den Text zeichnet aus, was schon als junger Professor zu Joseph Ratzingers besonderen Talenten gehörte: Er bündelt komplexe Gedanken, bringt sie wieder zum Leuchten und gibt ihnen durch Konzentration auf das Wesentliche neues Gewicht.

Das Schreiben vermittelt neben der inhaltlichen Orientierung auch eine spürbar andere Grundhaltung als die früheren Texte Ratzingers aus seiner Zeit an der Spitze der römischen Glaubenskongregation. Es ist kein Dokument des Kulturpessimismus oder des katholischen Überlegenheitsanspruchs. Es vermeidet Belehrendes und Herrisches. Stattdessen fließen die Gedanken souverän, werbend und anerkennend.

Dem Marxismus beispielsweise hält der Papst zugute, dass er – anders als zunächst die Kirchen – sehr früh schon die Gerechtigkeit zum Grundprinzip staatlichen Handelns erklärt hat. Auch im Blick auf die Schwesterkirchen vollzieht die Enzyklika eine klare Selbstkorrektur des Dokuments „Dominus Iesus“ von 2000, das durch seine Abwertung der anderen Kirchen im ökumenischen Dialog schweren Flurschaden hinterlassen hat. Die christlichen Partner werden nun gleichberechtigt genannt, die Ökumene kehrt wieder zum gewohnten Respekt zurück. Und alle Gläubigen werden angesprochen als Menschen guten Willens, die aus der gleichen Grundmotivation heraus handeln.

Der Kern der Enzyklika widmet sich jedoch der heutigen Aufgabe von Staat, Politik und Kirche nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und im Zeitalter der Globalisierung. Gegen neoliberale Dogmen stellt das katholische Oberhaupt den einen schlichten Satz, das Ziel und das innere Maß aller Politik sei die Gerechtigkeit. Klarer kann man es nicht ausdrücken. Die gerechte Ordnung der Gesellschaft, die Verpflichtung, jedem die für ein menschenwürdiges Leben nötigen Güter zu verschaffen – das darf nicht den freien Kräften des Marktes überlassen bleiben. Das gehört, so betont der Papst zu Recht, zu den zentralen Aufgaben von Politik und gleichzeitig seit den Tagen der Apostel zu den Grundpfeilern des christlichen Ethos.

Was aber gerecht ist, ist für Benedikt keine der menschlichen Natur innewohnende Konstante. Vielmehr siedelt er die Suche danach an in den Bereich – wie er es formuliert – der selbstverantwortlichen Vernunft. Damit distanziert sich erstmals ein Papst von der herkömmlichen katholischen Naturrechtslehre als primärer Leitlinie menschlichen Tuns. Dieser Schritt ist sicher auch taktisch begründet, um das katholische Denken anschlussfähiger zu machen für andere Wertesysteme und Weltanschauungen. Denn der Verweis auf die Vernunft eignet sich allemal besser als gemeinsame Analysebasis als eine vom Vatikan definierte Natur des Menschen.

Anders als der Christlichen Rechten in den USA geht es dem Papst also nicht darum, in der Gesellschaft eine Art frommen Kulturkampf anzustacheln. Anderen das eigene Verhalten und den eigenen Glauben aufzudrängen, lehnt das katholische Oberhaupt im Blick auf die christlichen Aktionen in den USA ebenso ab wie den Einsatz von Hilfsgeldern, um neue Kirchenmitglieder anzulocken.

In seinen Augen kann und soll die Kirche Politik nicht selbst in die Hand nehmen. Ihre Aufgabe liegt in der Werte- und Gewissensbildung, damit die zentrale Pflicht zur Gerechtigkeit einsichtig wird. Und damit sie sich gegen gesellschaftliche Einzelinteressen sowie „ethische Erblindung“ politisch durchsetzen lässt.

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