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Politik: Seit 1945 wurden in dem Kriegsgefangenenlager der polnischen Ortschaft deutsche Vertriebene umgebracht. Jetzt muss der Lagerkommandant vor Gericht.

Ein Haus mit verwitterter, rußschwarzer Fassade an einer Hauptverkehrsstraße. Im Fenster im Erdgeschoss der weiße Kopf einer Rentnerin.

Ein Haus mit verwitterter, rußschwarzer Fassade an einer Hauptverkehrsstraße. Im Fenster im Erdgeschoss der weiße Kopf einer Rentnerin. Sie plaudert fröhlich mit einer jüngeren Freundin. Auf die Frage, ob sie einen gewissen Geborski kenne, ob er in diesem Haus wohne, zögert die Alte. Die Heiterkeit ist weg. "Ja", bestätigt die Frau. "Im dritten Stock wohnt der." Sicher wisse sie, wer Czeslaw Geborski sei und dass ihm ein Prozess bevorstehe. Schließlich habe er ihren Onkel erwürgt.

"Er zerdrückte ihm die Kehle mit seinem Stiefel. 1945 saß mein Onkel in Lamsdorf. Geborski war dort Lagerkommandant. Wir erfuhren es von Nachbarn meines Onkels, der Schmied in Lamsdorf war. Sie haben alles mit angesehen", erzählt sie. Ob Geborski ahnt, dass es unter seinen Nachbarn Verwandte seiner Opfer gibt? Die Frau lächelt. "Als ich vor fünf Jahren hier eingezogen bin, hat er sich Mühe gegeben, nett zu sein. Ich habe ihm gleich klar gemacht, dass er sich das sparen kann, denn ich weiß, wer er ist. Seitdem geht er mir aus dem Weg."

Die 69-Jährige will ihre Anonymität bewahren. Sie glaubt, Geborski könnte sich rächen. Immerhin hat er es bis zum Oberst des Sicherheitsdienstes gebracht, und seine Freunde aus früheren Zeiten haben kaum an Einfluss verloren. Sie sehe ja, sagt die alte Frau mit leiser werdender Stimme, welche großen Tiere Geborski besuchen. Vor drei Jahren, als Demonstranten eine Mahnwache vor dem Haus errichteten und Kerzen für die Opfer des Lagers in Lamsdorf (Lambinowice) anzündeten, seien sie sofort von der Polizei verjagt worden. Einen so schnellen Polizeieinsatz habe sie noch nie erlebt.

Alles ein Komplott, sagt er

Dass es zu einem Gerichtsverfahren gegen Geborski kommen werde, sei ihrer Meinung nach ausgeschlossen. "Zu schlau ist der alte Fuchs. Seinen Freispruch wird er sich bei Ärzten ergaunern. Angeblich hat er schon drei Herzinfarkte und einen Schlaganfall gehabt. Das ist vorne und hinten gelogen. Seit dem Tod seiner Frau im Januar kann er sich nicht mehr in der Wohnung verkriechen. Jetzt muss er öfters auf die Straße gehen, und das sieht doch jeder, dass der Oberst Geborski noch sehr flink auf den Beinen ist", sagt die Rentnerin. "Glauben Sie mir, der wird noch zwanzig Jahre leben."

Der erste Eindruck von Geborski scheint ihr Recht zu geben. Robust und gebieterisch tritt der 75-Jährige vor seine Wohnungstür. Sein grauer Schnauzer, die Pfeife in der Hand und der bohrende Blick verleihen ihm eine überraschende Ähnlichkeit mit späten Ölschinken von Stalin.

Journalisten seien Arschkriecher, sagt er, jämmerliche Lügner. "Schauen Sie, was die da über mich schreiben." Geborski verschwindet in seiner Wohnung und taucht gleich wieder mit einem Papierschnipsel auf. "50 000 deutsche Vertriebene soll ich 1945 umgebracht haben, lesen Sie das. In Lamsdorf soll es 200 000 deutsche Gefangene gegeben haben. Dass ich nicht lache. Ich war damals ein kleiner Unteroffizier! Wie sollte ich da 50 000 Gefangene ermorden?"

Die Behauptungen des relativ unbekannten Blattes "Dzien na Opolszczyznie" ("Der Tag im Oppelner Schlesien") sind in der Tat maßlos übertrieben. In der kurzen Geschichte des polnischen Internierungslagers in Lamsdorf, wo 1945 oberschlesische Bauern nach der Zwangsräumung ihrer Höfe zusammengetrieben wurden, hat es unmöglich mehr als 20 000 Gefangene gegeben. Darüber sind sich die Historiker einig.

Was man über ihn schreibe, beruhe auf Gerüchten und sei Teil eines Komplotts, sagt Geborski. Die Deutschen wollten ihre Schuld auf die Polen schieben und hätten sich ihn als Opfer ausgesucht. "Die Welt ist verrückt." Sechs Millionen Polen seien umgebracht worden, drei Millionen hätten als Zwangsarbeiter leiden müssen. Und jetzt das. Er, Czeslaw Geborski, der für das freie Polen gekämpft habe, müsse sich vor einem polnischen Gericht verantworten.

Die Wohnung des Witwers ist voller Gerümpel. Stolpernd erreicht er die dunkle Küche und versucht, sich auf einem Bügelbrett ein Brot zu schmieren. Die Butter ist zu hart, das Messer rutscht ab und fällt auf den Boden. Geborski schlägt gegen die Wand. "Die Nutte ist tot!", schimpft er. "Wer ist tot?" "Meine Frau. Im Flur habe ich sie gefunden. Die blöde Kuh hat mich alleine gelassen." Dann nimmt er den Wodka aus dem Kühlschrank und geht ins Wohnzimmer.

"Im Krieg mussten wir zwölf Stunden täglich in einem Kohlebergwerk für die Deutschen schuften", erzählt er. "Zu essen gab es nur ein Stück Brot, einen Eintopf aus verfaulten Rüben und einen halben Hering. Man hat uns wie Sklaven behandelt. Damals schworen wir uns, die deutschen Hurensöhne nach dem Krieg auf den Zäunen aufzuhängen." Ungeachtet seiner Hasstiraden gegen die Deutschen leugnet Geborski, an irgendwelchen Morden beteiligt gewesen zu sein. Klar, gibt er zu, in Lamsdorf seien viele Menschen gestorben, doch das habe hauptsächlich mit dem Hunger, den Krankheiten und den Versorgungsengpässen der Nachkriegszeit zu tun gehabt. Auch dass es unter den Lamsdorfer Lagerinsassen Oberschlesier gab, deren Muttersprache Polnisch war, bestreitet Geborski vehement. "Die waren alle 25-Zloty-Polen", brüllt er. "25 Zlotys mussten die Oberschlesier damals bezahlen für eine Bescheinigung, dass sie Polen sind. Wer zahlte, durfte nach Hause gehen."

Seine Verhaftung nach dem Barackenbrand vom 4. Oktober 1945 bezeichnet Geborski als Resultat einer Verschwörung. Es stimme schon, sagt er, dass die Wachposten auf die Häftlinge geschossen hätten. Aber es seien nur drei gewesen, und die wären sonst ausgebrochen. Die Gräuelberichte über ein Massaker und Dutzende oder gar Hunderte Menschen, die damals ums Leben gekommen sein sollen, würden in Revanchistenkreisen in Deutschland fabriziert und seien allesamt aus der Luft gegriffen.

Geborski kommt in Fahrt. Er gießt sich einen weiteren Wodka ein und trinkt das Glas mit einem Zug leer. Seine blauen Augen schleudern Blitze, wohl der mutigste Richter würde sich überlegen, ihm in dieser Verfassung zu widersprechen.

Kein Tag ohne Tote

An die Ereignisse des Sommers 1945 erinnert in Lamsdorf heute wenig. Vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen zählte der Ort zu den größten Kriegsgefangenenlagern der deutschen Wehrmacht. 300 000 Soldaten, hauptsächlich Russen, aber auch Briten, Polen und Amerikaner wurden in Lamsdorf interniert. 40 000 fanden dort einen qualvollen Tod. Nach Kriegsende starben hier oberschlesische Landwirte und ihre Familien unter grausamen Umständen.

Auf einer Lichtung, wo je nach Schätzung 1500 bis 6500 Tote vergraben liegen, hätten vor nicht allzulanger Zeit Kühe geweidet und Kinder Fußball gespielt, sagt Elzbieta Wochnik. Sie ist eine der wenigen Lagerinsassen, die in der Gegend geblieben sind. Heute lebt die 71-Jährige mit ihrer Tochter und zwei Enkeltöchtern in einem Haus in Tulowice (Tillowitz). Über die Erlebnisse von damals zu reden, kostet sie Überwindung. Für jede Erinnerung an das Lager, wo "das Leben nichts wert war und die Menschen wie in Hypnose lebten", muss sie mit schlaflosen Nächten bezahlen, sagt sie.

Bis 1990 musste Elzbieta Wochnik über Lamsdorf schweigen. Heute erzählt sie: Dass ihre Familie am 28. September 1945 aus dem Haus getrieben und nach Lamsdorf gebracht wurde, wie alle Einwohner des Dorfes Ligota Tulowicka (Ellgut Tillowitz). Dass die Posten ihren Großvater während des Barackenbrandes erschossen haben. Bis heute verfolgt Elzbieta Wochnik der Anblick seines Leichnams in einem Kinderwagen, in dem er zum Massengrab geschoben wurde.

Zwei Monate verbrachte Frau Wochnik in Lamsdorf. Die damals 17-Jährige musste zusehen, wie alte Leute zu Tode gequält wurden und Kinder an Unterernährung starben. Jeden Tag, erzählt sie, wurden die Männer gezwungen, stundenlang auf der Stelle zu marschieren und deutsche Lieder zu singen. Wer zu leise sang oder die Beine nicht hoch genug hob, wurde verprügelt. Im Frauenblock, wo sie mit ihrer Mutter untergebracht war, hatten alle Läuse. Es verging kein Tag, an dem niemand an einer Krankheit starb. Vor der Baracke für 120 Menschen stand ein Kübel, der nachts die Latrine ersetzte. Lief er über, mussten die Häftlinge ihre Fäkalien vom Fußboden ablecken. Eine fünffache Mutter aus Szydlow, die sich geweigert hatte, wurde erschossen. Ihre Leiche beseitigten Wachposten in der Nacht. Doch die Reste ihres Hirns, die auf dem Boden neben dem Kübel klebten, konnte Frau Wochnik am nächsten Morgen noch deutlich sehen.

Auch Lucyna Kurjahn stammt aus Ellguth Tillowitz. Auch sie war in Lamsdorf. Zu essen gab es dort verfaulte Kartoffeln, erinnert sich die Frau, die heute 64 Jahre alt ist: zwei morgens und zwei abends, sowie eine ungenießbare Suppe, die mangels Geschirrs aus verrosteten Blechbüchsen gegessen wurde. Dieselben Büchsen mussten Häftlinge zum Waschen des Fußbodens verwenden. Jede Nacht seien die verängstigten Frauen von betrunkenen Posten verprügelt und vergewaltigt worden, sagt Lucyna Kurjahn.

1945, nach dem Barackenbrand vom 4. Oktober, wurde Geborski zum ersten Mal vorübergehend verhaftet. Doch wie der polnische Historiker Edmund Nowak herausgefunden hat, durfte Geborski den Status eines Untersuchungsbeamten beibehalten und verdächtige Personen selbst verhören. Zu einem Gerichtsverfahren kam es erst 1959 in Oppeln, und Geborski wurde trotz belastender Zeugenaussagen freigesprochen. Jetzt soll es einen zweiten Prozess geben: Seit Juli 1998 ermittelt die Staatsanwaltschaft in Oppeln erneut. Das Urteil von 1959 sei als Resultat politischer Beeinflussung zu bewerten, sagt Staatsanwalt Jerzy Kula, "aber die neue Anklageschrift muss sich aus juristischen Gründen auf das Massaker vom 4. Oktober 1945 beschränken, das im Prozess von 1959 nicht berücksichtigt wurde".

Der Staatsanwalt hofft beweisen zu können, dass am Nachmittag des 4. Oktobers 1945 in Lamsdorf betrunkene Wachposten eine Baracke in Brand gesetzt und wild auf die Häftlinge geschossen haben. Die Erklärung Geborskis, das Feuer sei von Gefangenen gelegt worden, die von einem geplanten Massenausbruch abzulenken versuchten, ist wohl eine Schutzbehauptung. "Eine Massenflucht wäre unsinnig gewesen", sagt der 68-jährige ehemalige Häftling Robert Tomala aus Ellguthammer. "Die meisten von uns durften außerhalb des Lagers unbewacht arbeiten. Es hat trotzdem keine Fluchtversuche gegeben, denn auf Flucht stand die Todesstrafe für die Familienangehörigen, und das wollte doch keiner riskieren. Das Feuer haben die Wachen gelegt. Sie hatten die Häftlinge zuvor Strohsäcke und anderes leicht entzündbares Material in die Baracke Nummer 12 hineintragen lassen."

Da es kein Wasser gab, mussten die Gefangenen das Feuer mit Sand und Erde löschen. Später wurden sie mit vorgehaltenen Waffen aufs Dach gejagt. Viele stürzten ab und verbrannten bei lebendigem Leib. Bei der darauffolgenden Schießerei starben viele Frauen und Kinder. 48 Gefangene, stellte unmittelbar danach das polnische Sicherheitsamt fest, kamen bei dem Massaker um.

Augenzeuge Tomala schwört, dass diese Zahl untertrieben sei. "Es waren mindestens 80 bis 100 Tote. Die Leichen lagen überall." Sie wurden zunächst in Wannen gelegt, erzählt Tomala, und dann zu einem Massengrab am Rande des Lagers gebracht. Manche Häftlinge wurden auch lebendig begraben.

Die Raffgier der Verfolger

Nach Angaben des Lagerarztes, Heinz Esser, dessen Augenzeugenbericht 1949 unter dem Titel "Die Hölle von Lamsdorf" in der Bundesrepublik erschien, wurden während der "Löscharbeiten" 40 Menschen verbrannt und 47 erschossen. Zu diesen Opfern müsse man außerdem 285 Menschen aus der Krankenstube zählen, die durch Genickschuss getötet oder durch Kolbenschläge betäubt und noch lebendig in Massengräber geworfen worden waren. Am nächsten Tag oder einige Stunden später, schreibt Esser, starben noch 209 Männer und Frauen an den Folgen der Verletzungen.

Der Oppelner Historiker Edmund Nowak betrachtet diese Statistik mit Skepsis. Die Zahlen Essers, so Nowak, seien unbelegbar und übertrieben. Er erklärt den Freispruch Geborskis von 1959 mit einem Zugzwang polnischer Justizbehörden, die auf den apokalyptischen Bericht Essers reagieren mussten. Angesichts von Angriffen der Vertriebenenverbände wäre eine Verurteilung Geborskis einem Punkteverlust im ideologischen Streit mit dem Westen gleichgekommen, und das durfte nicht sein.

Weder die offiziellen Stellen in Polen, noch die Vertriebenenverbände in Deutschland wollten es an die große Glocke hängen, dass nicht alle Gefangenen von Lamsdorf Deutsche waren. Diese Entdeckung machte das polnische Sicherheitsamt nach der ersten Verhaftung Geborskis. Unter den Lagerinsassen, stellten die Ermittlungsoffiziere fest, gab es Schlesier, die 1921 für den Anschluss des Oppelner Schlesiens an Polen optiert hatten und deren Muttersprache Polnisch war. Die Einwohner des Dorfes Ellguth Tillowitz haben auf dem Weg nach Lamsdorf die polnische Kirchenhymne "Pod Twoya obrone" gesungen.

"Die Vertreibungen im Oppelner Schlesien", meint der Professor für Pädagogik und Geschichte von der Oppelner Universität, Franciszek Marek, "fanden oft unter der Beteiligung krimineller Elemente statt. Nicht selten handelte es sich weniger um die Nationalität der Opfer als um ihre Ausplünderung." Viele polnische Schlesier seien einfach der Raffgier ihrer Verfolger zum Opfer gefallen, und nicht wenige Deutsche habe man in Ruhe gelassen, weil sie schon alles während der ersten Plünderungswelle der Roten Armee verloren hatten.

Seit ein paar Jahren steht in Lamsdorf ein Kreuz zur Erinnerung an die deutschen Opfer des Terrors. Die unauffällige Gedenkstätte am Rande des Lamsdorfer Museums für internierte Soldaten des Zweiten Weltkrieges wurde dreimal von polnischen Jugendlichen geschändet. Die Polizei konnte nicht verhindern, dass das Kreuz verbrannt wurde. Jetzt hat man ein neues aufgestellt, eines aus Stein, das den Flammen widersteht.

Die Öffentlichkeit hat auf die Anschläge mit Betroffenheit reagiert, Geborski mit Anerkennung. "Das war eine Reaktion patriotischer Elemente auf die schleichende Bevormundung Polens durch Deutschland", doziert der einstige Lagerkommandant. Wie ein souveräner Herrscher sitzt er zufrieden auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer unter zwei gekreuzten Säbeln, dem polnischen Wappen und einem verglasten Kasten mit all seinen Orden an der Wand. Dass "die patriotischen Elemente" rechte Skinheads waren, stört den Altkommunisten Geborski wohl am wenigsten.

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