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Enver Simsek und seine Frau. „Kein einziger Tag, an dem sie nicht weinte.“

© Ufuk Ucta

Semiya Simsek klagt an: Das erste Buch der Neonazi-Opfer

Enver Simsek war das erste Opfer des NSU. Seine Tochter erzählt nun die Geschichte seines Todes. Es ist ein Drama - und trotzdem sagt sie: „Meine Heimat ist Deutschland.“

Die Geschichte ist dramatisch, aber der Ton der Erzählung bleibt leise, die Sprache auf das Wesentliche reduziert. Die sachliche Wiedergabe der Ereignisse reicht, um den Leser hineinzuziehen in diesen real existierenden Abgrund an Brutalität und Tragik. Es handelt sich um ein Drama der besonderen Art, weil es die Gesellschaft als Ganzes angeht.
Am 9. September 2000 wird der Blumengroßhändler Enver Simsek nahe Nürnberg getötet, mutmaßlich von den Rechtsextremisten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Im Buch wird aufgelistet, wo der damals 39-Jährige getroffen wird: „Drei Projektile stecken in seinem Kopf, zwei Kugeln im rechten Schulterbereich, dazu zwei Durchschüsse, einer ging durch den linken Unterarm, der andere hatte ... die linke Augenhöhle durchschlagen. Ferner eine Streifschussverletzung am linken Ellenbogen und ein Fehlschuss, der das Wagendach traf. Neun Schüsse.“
Der 9. September 2000 war der Beginn einer bisher in diesem Land beispiellosen Mordserie von Rassisten, die bis 2007 weitere neun Menschen das Leben kostete. Bei allen Morden gilt ein Satz aus dem Buch: „Sie hatten in reiner, unverstellter Tötungsabsicht gehandelt.“

Die Tochter von Enver Simsek, Semiya Simsek, heute 26 Jahre, hat dieses erste Buch einer Hinterbliebenen gemeinsam mit dem Journalisten Peter Schwarz und ihren Anwälten Jens Rabe und Stephan Lucas geschrieben. Es ist ein zeithistorisches Dokument geworden, das dem Leser nahegeht und das es verdient, gelesen zu werden. Das Buch vereint drei Ebenen: Es erzählt die Lebensgeschichte von Enver Simsek und seiner Familie, es skizziert in Kenntnis von Ermittlungsakten das Vorgehen der Polizei, und es erhebt schwere Vorwürfe gegen den Staat und die Politik. Dieser politische Teil ist als Nachwort der beiden Rechtsanwälte ausgegliedert. Das Buch gibt Enver Simsek ein Gesicht, ein Leben. Es lenkt den Blick weg von den mutmaßlichen Tätern und den Pannen und Pleiten der Ermittler auf die immer noch weitestgehend anonymen Opfer. Am 9. September 2000 liegt Enver Simsek in seinem Sprinter zwischen gebundenen Sträußen und losen Schnittblumen in einer Blutlache. Der Rettungsarzt stellt einen „kräftigen Puls“ fest, aber die Atmung des Mannes ist nur noch „ein heftiges, unregelmäßiges Röcheln“. Als Semiya Simsek, damals 14 Jahre, von einem Onkel ins Krankenhaus gebracht wird, darf die Mutter nicht bei ihr sein. Sie wird auf der Polizeistation verhört. Bereits im ersten Fax hatte die Nürnberger Polizei ihre Kollegen in Schlüchtern, dem Wohnort der Simseks, dazu aufgefordert, die Mutter „zu einem möglichen Tatverdacht zu vernehmen“. Elf Jahre lang wird dieser Verdacht auf der Familie lasten. In all den Jahren wurde der Spur Fremdenfeindlichkeit nie ernsthaft nachgegangen, und diese Unterlassung wird im Buch auf Basis von Polizeiquellen als „Blindheit gegen rechts“ enttarnt. Bis ins Jahr 2007, als der letzte Mord verübt wurde, hat die Polizei den Opfern „undurchsichtige Lebensführung“ unterstellt. Schwarz, der die Polizeiakten einsehen konnte, schreibt von einem „Sammelsurium krudester ethnischer Vorurteile“ und „ins Rassistische spielender Klischees“. Vor allem Semiyas Mutter muss leiden, die jahrelangen Verhöre machen sie schließlich krank. „Von der ersten Vernehmung an haben sie sie hart angefasst. Sie schrieen sie an, sie solle es endlich zugeben.“ Sie wird verdächtigt, gemeinsam mit ihrem Bruder den Ehemann umgebracht zu haben. Die Tochter schreibt: „Ich kann mich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem sie nicht weinte.“

Wenn man sie fragt, sagt sie: „Meine Heimat ist Deutschland.“

Die Ermittler, das geht aus den Akten hervor, haben versucht, die Mutter mit Tricks zu einem Geständnis zu bewegen. Einmal erzählten sie ihr, ihr Mann habe eine Geliebte und zwei weitere Kinder, ein anderes Mal, dass er Drogenkurier gewesen sei. Allein die Drogengeschichte ist ein Skandal. Denn die Polizei hat die Fakten nicht geprüft. Ein türkischer Drogendealer war ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden und sollte andere verraten. Einer seiner Mitstreiter war angeblich Enver Simsek. Der Mann behauptete, das Auto zu kennen, mit dem Simsek aus Holland neben den Blumen Drogen transportierte. Die „Quelle“ behauptete, dass er den Wagen am Schriftzug „Simsek“ erkannt habe und dass es einen Mittelsitz im Auto gegeben habe, auf dem man zu dritt habe sitzen können. Jahre später erst wurde die Aussage gecheckt: Es gab keinen Mittelsitz, und der Schriftzug war 1999 auf das Auto geklebt worden – zwei Jahre nach der angeblichen Drogenfahrt, die der vermeintliche Zeuge mit Enver Simsek gemacht haben wollte. Als die Ermittler der Mutter diese Geschichte auftischen, bricht sie weinend zusammen und zerreißt aus Wut und Verzweiflung das Bild des Ehemannes.

Erstmals wird durch das Buch auch eine andere fragwürdige Aktion der Polizei öffentlich gemacht: Die Ermittler verwanzten den Wagen von Enver Simsek, um die Gespräche zwischen der Mutter und ihrem Bruder zu belauschen. Der Amtsrichter unterschrieb den Antrag für diesen Lauschangriff mit dem Argument: Es sei wahrscheinlich, dass die Familie mit den Tätern in Kontakt stehe und deshalb damit zu rechnen sei, dass ein Lauschangriff zur Aufklärung führe. Das war nicht der Fall. Der biografische Teil endet mit der Hochzeit Semiya Simseks in der Türkei im Frühjahr 2012. Die Feier findet an dem Ort statt, an dem auch der Vater begraben liegt. Der Leser, hineingeführt in das private Leben der Simseks, spürt hier noch einmal die ganze Tragweite: Eine Familie kämpft unverdrossen darum, sich ihr Leben zu bewahren. Dieses Ende, die Gleichzeitigkeit von Trauer und Glück, sind eine gute Überleitung zum Nachwort, das die gesellschaftliche Relevanz des Rechtsextremismus thematisiert.

Stephan Lucas und Jens Rabe werfen der Politik vor, die Dimension des Geschehens nicht begriffen zu haben. Sie schreiben: „Die Taten des NSU stellen einen ebenso massiven Angriff auf die bundesrepublikanische Ordnung dar wie die der Roten-Armee-Fraktion.“ Die Politik erwecke den Eindruck, man halte sich beim rechten Terror im Gegensatz zu den RAF-Taten nur zurück, „weil es sich bei den Opfern um Migranten handelt“. Semiya Simsek, in Deutschland geboren, lebt mittlerweile in der Stadt, aus der ihr Vater stammt. Im gesamten Buch lässt sie niemals Hass oder Rachegefühle auf die Täter erkennen, nur Wut und Wunden. Wenn man sie fragt, sagt sie: „Meine Heimat ist Deutschland.“

Semiya Simsek mit Peter Schwarz: "Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater." Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 272 Seiten, 18,95 Euro.

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