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Politik: Serbiens Schuld

Internationaler Gerichtshof urteilt über Vorwurf des Völkermords – Mammutverfahren seit 14 Jahren

Wenn am heutigen Montag um 10 Uhr im Großen Saal des Haager Friedenspalastes die Präsidentin des Internationalen Gerichtshofs Rosaly Higgins das Urteil über die Völkermord-Klage von Bosnien-Herzegowina gegen Serbien verliest, wird auf dem Balkan Hochspannung herrschen. Wie immer das Urteil ausfällt – es wird weit reichende Konsequenzen für die Auslegung der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien während der 90er Jahre haben.

Der bosnische Staat hatte im März 1993 eine Klage wegen Genozids gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien beim Internationalen Gerichtshof eingereicht. Rechtsnachfolgerin dieses Staates ist Serbien. Sollte das Gericht die Klage Bosniens gutheißen, dann werden Serbien und Montenegro, die damals gemeinsam Restjugoslawien bildeten, die ersten Länder weltweit sein, die des Völkermords für schuldig erklärt werden. Die bosnische Regierung verlangt Reparationszahlungen in Höhe von 100 Milliarden Dollar.

Vor der Verkündung des Urteils hat in Bosnien-Herzegowina eine heftige Debatte zwischen den Vertretern der Bosniaken (Muslime) und Serben stattgefunden. Der Ministerpräsident der bosnisch- serbischen Republik Milorad Dodik sagte, seine Landsleute würden das Urteil nicht akzeptieren, sollte Bosnien mit seiner Klage Erfolg haben. Die Bosniaken hoffen, dass das Urteil ihre Sichtweise über die Schuld Serbiens am Krieg in Bosnien bestätigen wird.

In den Belgrader Medien hieß es dagegen, der Internationale Gerichtshof werde Serbien nicht an den Pranger stellen. Es gebe keine Beweise, dass Serbien in Bosnien Völkermord begangen habe, schrieb das Massenblatt „Blic“. Das Gericht werde die bisherigen Urteile des UN-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien, das seinen Sitz ebenfalls in Den Haag hat, berücksichtigen und festhalten, dass bosnisch-serbische Truppen zwar Kriegsverbrechen an bosniakischen und kroatischen Zivilisten in Bosnien verübt hätten, doch ohne Unterstützung und Mitwirkung des Nachbarstaates Serbien.

Nach neuesten Angaben sind dem Konflikt in Bosnien etwa 100 000 Menschen zum Opfer gefallen. Das schlimmste Verbrechen ereignete sich in Srebrenica im Sommer 1995, als bosnisch-serbische Truppen 8000 bosniakische Männer und Knaben niedermetzelten. Die Hauptverantwortlichen für das Massaker konnte das UN-Tribunal bis heute nicht zur Verantwortung ziehen: Der ehemalige jugoslawische Staatspräsident Slobodan Milosevic ist vor einem Jahr in seiner Zelle in Den Haag gestorben, die Führer der bosnischen Serben – Radovan Karadzic und Ratko Mladic – verstecken sich nach Angaben der Chefanklägerin Carla Del Ponte im bosnisch-serbischen Grenzgebiet.

Die Anhörungen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag haben vor einem Jahr begonnen. Laut der Klage hat die Regierung in Belgrad Kämpfer rekrutiert, ausgebildet und finanziert, die von 1992 bis 1995 Tausende Zivilisten in Bosnien ermordet, gefoltert und vergewaltigt haben. Die Vertreter der bosnischen Seite griffen vor allem auf die Urteile des UN-Kriegsverbrechertribunals zurück, um zu beweisen, dass für den Genozid in Bosnien auch Belgrad die Schuld trifft. Für Carla Del Ponte steht außer Zweifel, dass Milosevic einem „gemeinsamen kriminellen Unternehmen“ angehört hat, dessen Ziel die Vertreibung der nichtserbischen Bevölkerung in Bosnien und die Schaffung eines großserbischen Staates gewesen sei. Ein Staat als Täter, der die Absicht hegte, eine ganze Volksgruppe auszurotten? Dies zu beweisen dürfte für die bosnischen Vertreter nicht einfach sein. Der Internationale Gerichtshof hat sich bisher nur mit territorialen Disputen zwischen Ländern befasst. Serbien hat seit je den Standpunkt vertreten, es habe den bewaffneten Aufstand der Serben in Bosnien nicht unterstützt und auch keine Aggression gegen die Nachbarrepublik verübt. In Bosnien habe ein Bürgerkrieg getobt, und Kriegsverbrechen seien von allen Konfliktparteien (Bosniaken, Serben und Kroaten) begangen worden.

Sollte sich die bosnische Regierung mit ihrer Klage durchsetzen, wird das Belgrader Geschichtsbild über den Zerfall Jugoslawiens widerlegt.

Enver Robelli[Zürich]

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