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© picture-alliance / dpa

Politik: Sheriffs, Schützen

Kennesaw, Georgia, gilt als Beleg für die Sinnlosigkeit strenger Waffengesetze, wie sie in den USA jetzt wieder diskutiert werden. Das Städtchen ist eine „Gun Town“, dort gilt seit 30 Jahren eine Waffenpflicht.

In einem düsteren Ladengeschäft im Erdgeschoss unter einem windschiefen Balkon träumt Dent Myers manchmal vom großen Sieg. Davon, dass die Südstaatenarmee im amerikanischen Bürgerkrieg doch noch gegen die Yankees gewinnt. Und davon, dass nicht immer die Gewinner die Geschichte schreiben.

Dent Myers, inzwischen 82 Jahre alt, ist Inhaber von „Wildman’s Civil War Surplus and Herbs“, Bürgerkriegsmemorabilia und Kräuter, und Geschichte ist eine seiner Leidenschaften. Weitere sind Waffen aller Art. Mit seinem langen grauen Haar, dem filzigen Bart, dem Halstuch und den dicken Silberringen an jedem seiner spindeldürren Finger sieht er aus wie eine Kreuzung aus Althippie und Hardrocker. Mit einem entscheidenden Unterschied: Myers trägt um die Hüften einen Gürtel, und an jeder Seite baumelt eine 45er Automatik. „Das ist eine Waffe, die von der Armee entwickelt wurde“, sagt er. Schnell und schlagkräftig. „Damit erschreckt man niemanden, damit tötet man.“ Dass Myers so hemmungslos bewaffnet in seinem Laden herumsteht, hat mit dem Ort zu tun, in dem er lebt, mit Kennesaw, einer Kleinstadt im Bundesstaat Georgia, etwa 40 Kilometer nördlich von Atlanta. Denn in Kennesaw verpflichtet das Gesetz jeden Bürger zum Waffenbesitz. In Myers’ Laden gibt es Aufkleber und T-Shirts mit dem Slogan: „It’s the law in Kennesaw“.

Der Erlass aus dem Jahr 1982 ist eine besonders eifrige Auslegung des Second Amendment, des weiten amerikanischen Verfassungszusatzes, der das Recht auf den Besitz und das Tragen von Waffen garantiert. Kennesaw war die erste Stadt in den USA, die eine solche Anordnung – Revolvererlass genannt – verabschiedete. Mittlerweile sind ihr etwa ein Dutzend weitere Städte gefolgt.

Myers geht langsam, die Knie leicht gebeugt, seinen schmalen Laden nach hinten durch. Es riecht modrig und morsch, nach schimmeligem Papier, verstaubten Erinnerungen und giftigen Gedanken. Ganz hinten ist das Museum, wie Myers es nennt, Eintritt: 25 Cent. Hier bewahrt er Sammlerstücke auf: ein weißes Kapuzengewand des Ku-Klux-Klan aus den 30er Jahren, Wehrmachtshelme aus dem Zweiten Weltkrieg und ein Stapel verblichener SS-Armbinden. Daneben Plastikdosen mit Kräutern, Patschuli, Fenchel, Herzspannkraut, Frauenhaarfarn. In Vitrinen sind Waffen ausgestellt, Schrotflinten und Säbel aus dem Bürgerkrieg. Revolver aus dem Wilden Westen, Samuraischwerter aus Japan. Allesamt todbringend. Aber so denkt Myers nicht.

Den Revolvererlass hält er für eine gute Sache, „weil er die Kriminellen, die Immigranten und all das Stadtvolk abschreckt, hierherzukommen“. Verteidigung statt Angriff. Weil die Welt ist, wie sie ist. Unkontrollierbar. „Wer eine Waffe will, besorgt sie sich, legal oder illegal“, sagt er und reißt seine wässrig-blassen Augen auf. Das ist sein Argument gegen strengere Waffengesetze, die ab dem kommenden Montag auch im US-Kongress diskutiert werden. Auf dessen Tagesordnung gerieten sie, nachdem im Dezember bei einem Schulmassaker in Newtown, Connecticut, 26 Menschen von einem psychisch kranken Amokläufer mit einem halbautomatischen Sturmgewehr erschossen wurden, darunter 20 Kinder.

Die Regierung von Barack Obama legte daraufhin Vorschläge für strengere Gesetze vor. Aber bisher diskutieren die USA nach jedem Amoklauf schärfere Waffengesetze, ohne dass sich grundsätzlich etwas geändert hätte. Ein waffenstarrender, aber friedlicher Ort wie Kennesaw ist dabei eines der Argumente derjenigen, die in der Gesetzeslage nicht das entscheidende Mittel im Kampf gegen Waffengewalt sehen.

Vor Dent Myers’ schummriger Ladengruft scheint die Sonne auf das helle Trottoir aus rotem Backstein. Ein paar Häuser weiter, nahe der Eisenbahntrasse, liegt der Trackside Grill, der mit bunten Fähnchen Besucher anlockt und am Mittag immer voll ist. In Sichtweite des Ladens befinden sich auch Rathaus und Polizeistation, die sich ein schmuckes Gebäude mit weißem Dach und weißen Säulen teilen. Im Vorgarten stehen alte Eichen auf einem hellbraunen Kiefernnadelteppich, deren Füße bunte Ringe aus Stiefmütterchen und Primeln schmücken.

Polizeileutnant Craig Graydon ist der dienstälteste unter seinen Kollegen und der Experte für den Revolvererlass. Er ist 46 Jahre alt und seit 27 Jahren bei der Polizei in Kennesaw; ein Mann von stattlichem Leibesumfang, mit glattem Gesicht und flinken Augen. Graydon leitet die Abteilung Verbrechensbekämpfung. Viel hat er nicht zu tun. „Die meisten Verbrechen sind Bagatelldelikte, ein geklautes Handy, eine zerschlagene Autoscheibe.“ Graydon sitzt in einem schlichten Konferenzraum und lässt die Hände auf den glänzend polierten Holztisch sinken. „Seit 1980 hatten wir hier neun Morde, und die meisten wurden nicht mit einer Schusswaffe verübt.“ Wie viel die niedrige Verbrechensrate in Kennesaw – sie liegt etwa 50 Prozent unter dem amerikanischen Durchschnitt – mit dem Revolvererlass zu tun hat, mag Graydon nicht sagen. Die Verbrechensrate war 1982 auch nicht der Grund für den Sonderweg des Städtchens, sondern vielmehr der Wunsch, ein Zeichen zu setzen. 1981 hatte nämlich in Illinois die Kleinstadt Morton Grove ein Waffenverbot erlassen, was eine Premiere in den USA war – und in Kennesaw nicht gut ankam.

„Wir in Kennesaw wollten zeigen, dass wir gute Patrioten sind, dass wir hinter der Verfassung stehen“, erklärt Graydon das Votum von damals. Außerdem, fügt er an, sei die Region um Atlanta seit den 80er Jahren stark gewachsen, auch das nahe gelegene Kennesaw wuchs von damals 5000 auf heute 33 000 Einwohner, und da wollte man eine Warnung an alle Kriminellen schicken: Hier sind die Bürger bewaffnet. „Der Erlass“, sagt Graydon, „war eine Art symbolischer Präventivschlag, ein politisches Statement.“ Im Übrigen überprüfe die Polizei die Einhaltung der Anordnung nicht. „Wir schicken keine Beamten in die Häuser und kontrollieren, ob die Bewohner eine Schusswaffe haben oder nicht.“

Graydon ärgert sich manchmal, wenn die Medien ein falsches Bild von Kennesaw zeichnen. Wie das Erotikmagazin „Penthouse“, das in den 80er Jahren eine Titelgeschichte über die Kleinstadt in Georgia veröffentlichte. Das Foto zeigt fünf Männer, die mit markigem Kinn und Revolver im Gürtel vor dem Ortsschild von Kennesaw posieren. Das Magazin verschwand in den Archiven, die Schlagzeile blieb: „Gun Town, USA“. Graydon öffnet eine eiskalt beschlagene Coca- Cola-Dose mit einem zackigen Plopp und sagt: „Aber wir sind nicht so. Wir sind keine Horde von Cowboys und Rambos, die bewaffnet durch die Straßen patrouillieren und wild herumballern.“ Kennesaw sei einfach eine ganz normale Kleinstadt in Amerika.

Durch das große Fenster im Konferenzraum kann er auch den Laden von Dent Myers sehen, über dem sich eine verschlissene Konföderiertenflagge mühsam in die Luft quält. Graydon schaut rüber und sagt über Myers: „Er hat das Recht, zu tun und zu sagen, was er will. Aber er ist in keiner Weise der typische Bürger von Kennesaw.“ Dennoch scheinen auch die unauffälliger Bewaffneten im Ort so zu denken wie der alte Waffennarr. Zweifel an der Anordnung seien in Kennesaw nie aufgekommen, sagt Graydon, auch nicht nach dem Schulmassaker von Newtown. Stattdessen hat in Kennesaw und anderswo in den USA der Verkauf von Munition und Waffen, vor allem von Sturmgewehren, rasant angezogen – auch aus Furcht vor strengeren Waffengesetzen. Der Waffenhersteller Smith & Wesson konnte seinen Gewinn in den vergangenen Monaten verdreifachen.

Zum Abschied erklärt Graydon noch, dass Waffen selbstverständlich seien im Süden, vor allem in den ländlicheren Gegenden. „Hier haben die Leute Waffen für die Jagd und zur Selbstverteidigung“, sagt er und hat doch eine Veränderung festgestellt: dass immer mehr Frauen „die Freude am Schießen“ entdecken.

Eine von diesen Frauen ist Corey Clark. Sie ist Grundschullehrerin, 23 Jahre alt und lebt noch im Haus ihrer Eltern in diesem aufgeräumten Vorstadtland, in dem die Gärten bewässert sind, jedes Auto eine Garage hat und die Mülltonne einen Einstellplatz. Clark ist schlank und feingliedrig, mit braunen Augen und einem achtlos zusammengebundenen Pferdeschwanz. Sie trägt Jeans, ein kariertes Hemd, einen Westerngürtel mit glitzernden Steinchen. Sie sagt: „Ich mag die Herausforderung, die Präzision, die man zum Schießen braucht.“

An diesem Samstag fährt sie zum Schießstand ihres Waffenclubs. Sie belädt ihren rostigen Pick-up-Truck mit den drei Waffen, die sie besitzt: eine Pistole Kaliber 38 „zur Selbstverteidigung“, eine Schrotflinte „für die Jagd auf Fasanen und Truthähne“ und ein großes Jagdgewehr, „damit gehe ich Falken und Rehe schießen“. Ihr Freund besitzt eine AR-15, ein halbautomatisches Sturmgewehr, das auch beim Militär verwendet wird. „Das ist eine Waffe, mit der man ganz weich schießen kann“, sagt sie. „Ich liebe es, mit dieser Waffe jagen zu gehen.“

Ein Verbot von Sturmgewehren – wie seit Newtown wieder im Gespräch – hält sie für sinnlos. Mit demselben Argument wie Myers. Sie sagt: „Dann würde es einen Schwarzmarkt geben und man hätte noch weniger Kontrolle darüber, wer eine solche Waffe besitzt.“ Aber strengere Hintergrundchecks solle es geben für jeden, der eine Waffe kaufen will.

Corey Clark hat noch nie eine Waffe auf einen Menschen gerichtet. „Ich schlafe zwar mit der Schrotflinte unter meinem Kissen, aber ich wache nicht einmal auf, wenn es draußen donnert“, sagt sie und lacht. Und nach einer Pause: „Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich abdrücken könnte, wenn jemand vor mir steht.“

Als Lehrerin hat Clark die politischen Diskussionen nach dem Massaker von Newtown aufmerksam verfolgt. In Cobb County, dem Verwaltungsbezirk, zu dem Kennesaw gehört, patrouillieren vor den Highschools seit Jahren bewaffnete Sicherheitskräfte. Nicht jedoch vor Grundschulen, das ist zu teuer. Vertreter der Waffenlobby in den USA haben den Vorschlag gemacht, künftig auch Lehrer zu bewaffnen. Clark schüttelt den Kopf. „Ich finde, das ist keine gute Idee.“ Sie zögert einen Moment. „Wenn etwas passiert, ist es mein Job, die Kinder in Sicherheit zu bringen, und nicht, zu prüfen, ob meine Waffe auch schussbereit ist.“

Der Waffenclub ist ein Acker mit sanften Hügeln, zu einer Seite kahle Baumwollfelder, zur anderen eine Hühnerfarm. In der Ferne pusten die Kühltürme eines Kraftwerks weißen Rauch in den makellosen Mittagshimmel. In einer Holzbude neben einem roten Dixi-Klo sitzt ein alter Mann auf einem Gartenstuhl. Er zeigt auf eine Liste, in der sich die Mitglieder eintragen müssen. Er erzählt, dass er im Vietnamkrieg gekämpft hat, dass er nur noch eine halbe Lunge und eine viertel Prostata habe und dass Präsident Obama ein Verbrecher sei, aber da ist Corey Clark schon längst auf dem Weg zum Schießstand.

„Unter den Waffenleuten gibt es schon ein paar komische Typen“, sagt Clark auf der Rückfahrt und grinst. In der Schule erzähle sie niemandem, dass sie gerne schießt. Sie klebe auch keine Aufkleber der Waffenlobby an ihr Auto. Weil sie die Diskussionen vermeiden will und weil manche ihrer Kollegen meinen könnten, ihr Hobby passe nicht zu ihrem Beruf. Sie zieht die Brauen zusammen. „Viele Menschen würden das nicht verstehen, die Sache mit dem Schießen.“

Lara Bartoli zum Beispiel. Die 19-Jährige studiert Kommunikationswissenschaften an der Kennesaw State University, der drittgrößten staatlichen Universität in Georgia. Später will sie einmal bei einer Menschenrechtsorganisation arbeiten. Bartoli ist erklärte Vegetarierin und schaut spöttisch unter ihrem akkurat geschnittenen Pony hervor. Sie sitzt an einem wackeligen Metalltisch in der Unicafeteria und macht sich lustig über den Verharmlosungsslogan der Schusswaffenvereinigung NRA „Nicht Waffen töten Menschen, Menschen töten Menschen“. „Es müsste“, sagt sie, „wohl eher heißen, Menschen mit Waffen töten Menschen.“ Bartolis Eltern besitzen keine Waffen, und auch sie selbst will nichts mit Waffen zu tun haben. Sie sagt, sie verstehe nicht recht, warum ein Zivilist zur Selbstverteidigung unbedingt ein Sturmgewehr brauche.

Nach Abschluss ihres Studiums will Lara Bartoli Kennesaw verlassen, aber das habe nichts mit dem Revolvererlass zu tun. „Das ist ein Gesetz, das nicht vollstreckt wird. Deshalb ist das kein großes Ding.“ Sie lebt gerne in dem Städtchen und findet nicht, dass es in Kennesaw mehr Waffennarren gebe als anderswo. Sie sagt: „Wer unbedingt eine Waffe will, besorgt sie sich irgendwie, Waffengesetze hin oder her.“ Darin immerhin ist sie sich einig mit der Hobbyjägerin Corey Clark und mit Polizeileutnant Craig Graydon und sogar mit Dent Myers, der in seinem düsteren Laden unter dem windschiefen Balkon noch immer vom großen Sieg der Konföderierten träumt.

Und wie ging es eigentlich weiter in Morton Grove, Illinois? Der Ort hat sein Waffenverbot 2008 widerrufen.

Katja Ridderbusch[Kennesaw]

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