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Politik: Siegerjustiz? Sieg der Justiz!

Von Peter von Becker

Der Beginn des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses gegen Hermann Göring und 23 weitere Repräsentanten des gerade untergegangenen NS-Regimes markiert am 20. November 1945 die Geburt des modernen Völkerrechts. Die Existenz unveräußerlicher Menschen- und Völkerrechte hatten Philosophen, Verfassungen und Konventionen zwar längst bekundet. Aber „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Verschwörungen gegen den Frieden“ und die „Führung eines Angriffskrieges“ wurden heute vor 60 Jahren zum ersten Mal in einem internationalen Gerichtsverfahren angeklagt, untersucht und verurteilt.

Seitdem können sich Gewaltherrscher nicht mehr unbesorgt auf ihre Souveränität und gar Immunität berufen, können die willigen Helfer von Diktaturen nicht mehr ihre eigene Unverantwortlichkeit behaupten. Das hat Kriege, Völkermord und Rechtlosigkeit bis heute gewiss nicht verhindern können. Doch wären der Internationale Strafgerichtshof von Den Haag, wären Verfahren wie gegen Slobodan Milosevic oder selbst der Prozess gegen Saddam Hussein in Bagdad ohne das Beispiel von Nürnberg kaum denkbar. Statt des Tyrannenmords gibt es nun immerhin das Tribunal über den Tyrannen.

Dennoch begleitet jeden dieser Prozesse auch der Einwand, es handle sich hierbei um „Siegerjustiz“. Göring hat ebenso von Siegerjustiz geredet wie heute Milosevic und Saddam Hussein – sogar bei den Strafverfahren gegen Verantwortliche für das Unrecht der untergegangenen DDR fiel nach 1990 immer wieder das ominöse Wort.

Dazu eine Anekdote des einstigen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker: Er war als 25-jähriger Kriegsheimkehrer und Jurastudent zusammen mit der späteren „Zeit“-Herausgeberin Marion Dönhoff und einem Freund Ende 1945 vor den Nürnberger Justizpalast gefahren und hatte angesichts der amerikanischen Panzer aus einem klapprigen Wagen heraus gerufen, man solle „hier mit ein paar Sprengladungen reingehen“. Weizsäcker meinte damals: „Wir Deutsche, nicht die Alliierten, müssten hier über die Nazis Gericht halten!“ Der Präsident a.D. nennt das seinen jugendlichen Irrtum, weil die eben besiegten und befreiten Deutschen zur Selbstjustiz aus praktischen und moralischen Gründen gar nicht in der Lage gewesen wären.

In Nürnberg schon sechs Monate nach Kriegsende einen öffentlichen Prozess mit Tausenden von Beweisstücken und umfangreichen Verteidigungsmöglichkeiten als „fair trial“ zu führen, auch das war eine beispiellose juristische und logistische Leistung. Sie konnten nur die Sieger, vor allem die Amerikaner und Engländer, vollbringen. Wie schwer sich die deutsche Justiz später tat, zeigt allein das Faktum, dass der Frankfurter Auschwitz-Prozess erst nahezu zwei Jahrzehnte nach Nürnberg stattfand.

„Vae victis“, „wehe den Besiegten“, hieß es im antiken Rom. Siegerjustiz ist da ein zivilisatorischer Fortschritt – wenn die Justiz der Sieger auch ein Sieg der Justiz ist, also an Stelle der Willkür die Wahrheitsfindung tritt und ein auf rechtsstaatlichen Prinzipien beruhendes Urteil. Dann teilt sich die Welt auch nicht weiter in Sieger und Besiegte. Weil nicht einfach das Recht des Stärkeren herrscht. 60 Jahre nach Nürnberg muss man gerade im wiedervereinigten Deutschland nicht mehr über Siegerjustiz streiten. Sondern kann für den Sieg der Justiz eintreten: mit anderen Völkern aus gemeinsamem Recht.

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