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Alt-Kanzler Helmut Schmidt wird 95 Jahre alt

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Sigmar Gabriel gratuliert dem Alt-Kanzler: "Für Schmidt ist die Vernunft der Maßstab"

Ein Feingeist, mit trockenem Humor und moralischem Ernst. Als Kanzler gelang es Helmut Schmidt, die innere Spaltung der Bundesrepublik zu verhindern. Argumentativ, nicht autoritär. In seinem Gastbeitrag verneigt sich SPD-Chef Sigmar Gabriel vor dem Sozialdemokraten, der am Montag 95 Jahre alt wird.

Gefühlt ist die übergroße Mehrheit der SPD-Mitglieder vor allem in den 1970er und 1980er Jahren wegen Willy Brandt in die Partei eingetreten. Bei mir war das etwas anders: Ich bin auch wegen Helmut Schmidt Sozialdemokrat geworden!

Als ich 1976 in die SPD eintrat, war Helmut Schmidt schon seit zwei Jahren Bundeskanzler. Ich war zu der Zeit junger Falke, also Mitglied eines SPD-nahen Jugendverbands. Schmidt war damals entschieden für die Atomenergie, wir Falken entschieden dagegen. Helmut Schmidt war später für die Nato-Nachrüstung – ich, wie viele andere Sozialdemokraten auch, natürlich dagegen. Schmidt stand für betont pragmatische Politik. Wir träumten vom großen Wurf.

Keiner kann schlechte Argumente so sezieren

Worin lag, worin liegt bis heute die ungeheure Anziehungskraft von Helmut Schmidt? Vermutlich ist es die Form von Autorität, die er wie kein anderer Politiker verkörpert: Eine Autorität, die sich auf das Argument stützt, statt auf autoritäres Gehabe. Kein anderer Politiker kann schlechte Argumente so erbarmungslos sezieren wie er, kein anderer seine eigene Position – gerade dort, wo sie vom je aktuellen Mainstream abweicht – so präzise begründen.

Gratulant Sigmar Gabriel.
Gratulant Sigmar Gabriel.

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Helmut Schmidt wird am 23. Dezember 95 Jahre alt. Längst ist er zu einer eigenen politischen Institution in Deutschland geworden. Sein politisches Talent hat er schon früh und beeindruckend als Hamburger Innensenator bewiesen, sein Wirken als Fraktionsvorsitzender der SPD, als Verteidigungs- und Finanzminister und schließlich als Bundeskanzler war beispielhaft. Schmidt hat nach seiner Kanzlerschaft 1983 die Rolle, aber nicht die entschiedene Haltung gewechselt: Er ist seitdem einer der Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“. Immer wieder mischt er sich in dieser Funktion in die politischen Debatten unseres Landes ein. Was immer Schmidt zu zentralen Fragen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft äußert, findet nicht nur bei uns in Deutschland Gehör. Sein Wort hat überall politisches Gewicht.

Er ist ein pragmatischer Kompetenzpolitiker

Helmut Schmidt folgte 1974 auf den charismatischen und weit über die Grenzen der eigenen Partei geliebten Bundeskanzler Willy Brandt. Es war kein leichtes Erbe, das er nach Brandts überraschendem Rücktritt antrat. Helmut Schmidt hat es nur schweren Herzens akzeptiert. Aber er fand von Beginn an seinen eigenen Stil. Geradlinig und unbeirrbar führte er die Bundesrepublik als Bundeskanzler durch schwerste politische und ökonomische Krisen. Auf diese Weise wurde Helmut Schmidt für viele Menschen zum Inbegriff des pragmatischen Kompetenzpolitikers.

Reines Krisenmanagement war seine Sache jedoch nie. Er wollte weder reiner Reißbrettstratege noch abgehobener Visionär sein. Schmidt unterwarf sich bewusst der Korrektur durch Vernunft und Wirklichkeit. Deshalb misstraute er Reformen in einem Schritt und großen Gesamtkonzepten. Ganz im Sinne des kritischen Rationalismus eines Karl Popper hält sich Schmidt an eine Politik der kleinen Schritte auf ein festes Ziel hin. Der Vorwurf, eine solche Politik liefere nur Stückwerk, trifft ihn nicht. Schmidt weiß um die Clausewitz zugeschriebene Erkenntnis, dass kein Plan den ersten Zusammenstoß mit dem Gegner überlebt. Für ihn müssen Reformen zwar planvoll sein, aber stets doch auch korrigierbar bleiben. Denn selbstverständlich irren auch Politiker. Überdies widerlegt die Realität den politischen Plan oft genug – um einen von Poppers zu Unrecht fast vergessenen Begriffen zu nutzen.

Die SPD hat es ihm nicht leicht gemacht. Und er es ihr nicht

Helmut Schmidts Maßstab ist nicht die gute Absicht, sondern die Vernunft – und das Ergebnis. Vielen Politikergenerationen ist er damit bis heute Vorbild. Kenntnisreich, weltgewandt, planvoll und mit unvergleichlicher Entschlusskraft hat er sein politisch-philosophisches Credo, nämlich „pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken oder zu sittlichen Zielen“, während seiner achtjährigen Kanzlerschaft in die Tat umgesetzt.

Helmut Schmidt wird im Dezember 1976 von Parlamentspräsident Karl Carstens als Bundeskanzler vereidigt.
Helmut Schmidt wird im Dezember 1976 von Parlamentspräsident Karl Carstens als Bundeskanzler vereidigt.

© dpa

Für einen Politiker ungewöhnlich bleibt sein Bemühen um eine philosophische Begründung seines Handelns. Der strenge kategorische Imperativ Immanuel Kants – „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ – dient ihm nicht als schmückendes intellektuelles Beiwerk. Schmidt sieht sich diesem wichtigsten emanzipatorischen Grundsatz der Aufklärung verpflichtet. Er rang als Politiker tatsächlich immer wieder um eine politische Ethik, die ihn selbst band und nicht entlastete. Helmut Schmidt versteckt sich nicht hinter seinen philosophischen Grundsätzen. Vielmehr stellt er sich mit ihnen einer öffentlichen Debatte. Der Demokratie in der jungen Bundesrepublik hat dieser diskursive Stil gutgetan. Politische Debatten der Schmidt-Ära zielten auf geradezu angelsächsische Weise auf einen common sense. Das war seine Weise, innere Spaltungen des Landes zu überwinden: argumentativ und nicht autoritär.

Der RAF gegenüber blieb er hart

Spürbar wurde dies besonders in den quälenden Tagen des Deutschen Herbstes von 1977. Die Entführung Hanns Martin Schleyers, die Attentate auf führende Vertreter von Staat und Gesellschaft, und schließlich die Entführung eines deutschen Passagierflugzeugs konfrontierten Schmidt unausweichlich mit der Frage, an welchen Grundsätzen er seine Entscheidung über Leben und Tod ausrichten könne. Kein deutscher Politiker hat je so öffentlich mit sich gerungen. Nur wenige hätten wohl so prinzipienbewusst entscheiden können wie Helmut Schmidt. Seine Entscheidung, die Forderungen der RAF nicht zu erfüllen, fiel ihm nicht leicht. Gegenüber der terroristischen Bedrohung wurde seine Verantwortung zur schweren moralischen Last. Aber weil Helmut Schmidt sein Handeln als Ergebnis eines Abwägungsprozesses begründete, in dem er auch die möglichen Alternativen ernsthaft und öffentlich erwog, erschien sein Handeln kaum jemandem als unerbittlich. Helmut Schmidt einte mit seiner Begründung für eine harte Haltung gegenüber der terroristischen Erpressung die deutsche Gesellschaft, statt sie im Streit zu spalten. Selten waren politische Debatten in Deutschland so von hohem moralischem Ernst erfüllt wie in diesen Wochen.

Helmut Schmidt zeichnen Leidenschaft im Sinne der Sache, Verantwortung gegenüber dieser Sache und Augenmaß im Handeln aus. Man könnte fast meinen, Max Weber habe ihn vor Augen gehabt, als er über „Politik als Beruf“ schrieb.

Er gehört in die Reihe der großen Sozialdemokraten

„Seine“ SPD ist nicht nur deshalb bis heute zu Recht stolz auf ihn – obwohl sie es ihm nie leicht gemacht hat (und er es ihr übrigens auch nicht). Helmut Schmidt ist in seinem tiefen Inneren so sozialdemokratisch wie Bebel, Ebert oder Brandt. Der Krisenmanager und Weltökonom gehört in die Reihe der großen Sozialdemokraten des 20. Jahrhunderts – und sein Einfluss reicht weit über dieses letzte Jahrhundert hinaus. Denn wie kaum ein anderer hat er die globale Entwicklung der Ökonomie wie Politik von Beginn an vorausgesehen und in seinem politischen Handeln antizipiert.

Ob als Hamburger Innensenator, Bundesverteidigungsminister oder als Bundeskanzler: Schmidt übernahm stets ohne Zögern herausragende Führungsaufgaben und bestimmte rasch die Richtung der Politik. Er hat damit Sympathie und Bewunderung über die Grenzen der Sozialdemokratie hinaus gewonnen. Den von Konservativen gern kolportierten Satz, Helmut Schmidt sei der richtige Mann in der falschen Partei, hat er selbst stets mit großem Nachdruck und innerer Grundüberzeugung, aber auch völlig zu Recht zurückgewiesen.

Ich bin stolz darauf, dass er einer der Unseren ist!

Im Januar 2010 habe ich Helmut Schmidt eingeladen, im SPD-Parteivorstand seine Sicht auf den Afghanistan-Konflikt darzulegen. Mich hat nicht nur die Präzision seiner Argumente beeindruckt – sondern auch seine offensichtliche Freude daran, das erste Mal seit 1982 an einer Sitzung dieses von ihm ja nicht immer und zu allen Zeiten gleichermaßen geschätzten Gremiums teilzunehmen.

Helmut Schmidt ist ein traditioneller Sozialdemokrat im besten Sinne. Früher als andere hat er den Wandel der Industriegesellschaft in der Globalisierung verstanden. Schmidts Regierungszeit wurde von globalen Krisen überschattet: Ölkrise, Inflation und der weltweite Niedergang der Industrie überforderten den Nationalstaat. Er hat für diese Herausforderungen Institutionen geschaffen, welche die neue globale Wirtschaftsordnung politisch gestalten und ausgestalten sollten: die Weltwirtschaftsgipfel, das europäische Währungssystem und die vertiefte Integration Europas zeugen von seiner vorausschauenden Politik und seinem Verständnis von Politik in einer zunehmend globalisierten Welt. Und es offenbart eine Vision von zeitgemäßer Politikgestaltung, die er stets, wenn er mal darauf angesprochen wurde, hanseatisch bescheiden zurückwies.

Für ihn ist der Staat eine Instanz

Sein Gestaltungswille orientierte sich am Modell Deutschland. Mit diesem Slogan warb die SPD bei der Bundestagswahl von 1976. Helmut Schmidt versteht darunter bis heute eine soziale Marktwirtschaft mit gesellschaftlicher Stabilität, Vollbeschäftigung und festen, politisch gesetzten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. In diesem Modell werden die Differenzen der vielen Interessengruppen politisch moderiert. Scharf kritisiert Helmut Schmidt heute den Raubtierkapitalismus der Neoliberalen, der den Staat ausgehöhlt und die Demokratie eingeschränkt hat. Für ihn ist der Staat eine Instanz, die Demokratie, Bürgerrechte – auch soziale – und den sozialen Ausgleich sichert. Von einem schwachen Staat, der die Märkte gewähren lässt, hält Helmut Schmidt nichts. Und dafür hat er überzeugende ökonomische, politische, historische und moralische Argumente.

Das Motto von Helmut Schmidts erster Regierungserklärung 1974 lautete: Kontinuität und Konzentration. Nichts beschreibt den Stil seiner Politik und die Grundlagen seines politischen Urteils besser und treffender. Er vermag es bis heute, die Prioritäten in der Politik einzigartig und präzise zu formulieren. Als Herausgeber und Autor begleitet Helmut Schmidt nun schon mehrere Jahrzehnte lang die Debatten in unserem Land.

Auch seine Frau Loki war ein Vorbild

Bescheiden lebt er, bescheiden ist auch Schmidts politisches Selbstverständnis. Wohltuend in Erinnerung geblieben sind vielen Menschen die Bilder von den Besuchen der Großen der Welt in Schmidts kleinem Hamburger Reihenhaus. Das war den meisten Bürgerinnen und Bürger näher, als die große Bühne der Weltpolitik es sonst meist ist. Seine Frau Loki war vielen Menschen zeitlebens ein Vorbild an Bescheidenheit und stillem Glück. Helmut Schmidt hat sich gelegentlich als leitender Angestellter der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. Das aber war er länger als jeder andere Sozialdemokrat vor oder nach ihm: Über acht Jahre hat Schmidt unser Land regiert. Und es waren beispiellos herausfordernde Jahre für unser Land.

Dabei war und ist Helmut Schmidt für manche Überraschung gut – auch dank seines trockenen Humors, der den großen Feingeist auszeichnet. Für die Sozialdemokratie und für unser Land wünsche ich mir, dass er uns und die politischen Debatten in Deutschland noch lange mit seinen Beiträgen und Interventionen bereichert. Ich bin stolz darauf, dass er einer der Unseren ist!

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