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Sigmar Gabriel hat einen Plan: Der Dampfmacher

Sigmar Gabriel hat einen Plan. Als Wirtschaftsminister wie als SPD-Chef. Das Stichwort lautet: Qualität des Lebens. Die Idee hat er schon lange, jetzt auch das Amt. Das bekommen alle zu spüren. Und die Kanzlerin? Die lässt ihn gewähren. Es scheint ihr sogar zu gefallen. Bis auf Weiteres.

Wie er sich da in den Stuhl plumpsen lässt! Nicht, dass das Lärm macht, aber auffällig ist das durchaus. Und dann gluckst er auch noch, so dass Angela Merkel ihn von der Seite anschaut. Gute Laune – wenn das mal nicht verdächtig ist. Angela Merkel, die Kanzlerin, mag Gabriel und traut ihm viel zu; aber eben auch fast alles, und das ist vor dem Hintergrund dessen, was ihre Anhänger die gesunde Skepsis der Naturwissenschaftler nennen und ihre Gegner schlicht übertriebenes Misstrauen, sehr viel. Beides bildet nämlich zusammengenommen Fliehkräfte, die bisweilen an der Kanzlerin zerren: ihr Vertrauen in seine Fähigkeiten einerseits, ihr Misstrauen gegenüber seinen Eigenschaften andererseits. Tja, und von beidem hat nun wiederum er viel.

Sigmar Gabriel hat einen Plan. Nicht einen wie von den Sozialisten, nein, das nicht, die hatten immer Fünf-Jahres-Pläne. Er hat einen Vier-Jahres-Plan, es ist ein richtig lange zurechtgelegter, einer mit Annahmen. Eine der Annahmen, auf der alles basiert, lautet: Die Sozialdemokraten halten die Legislaturperiode in der großen Koalition durch. Denn die will Gabriel nutzen.

Der Plan lautet, auf eine einfache Formel gebracht: Hier wird regiert. Zu einfach? So schwierig. Denn es setzt voraus, dass jeder seinen Platz kennt und ihn ausfüllt. Gabriel zuerst. Damit am Ende, wenn abgerechnet wird, am besten auch ihre Gegner sagen, dass die SPD in der großen Koalition über vier Jahre viel Ordentliches zustande gebracht hat. Dass sie ganz anders war als die FDP. Dass man das überhaupt nicht vergleichen kann. Dass sie – ja, dass sie regieren kann.

Anerkennung ist es, was Sigmar Gabriel anstrebt, Anerkennung für seine Partei und damit für sich. In diesem Fall kommt die Partei zuerst, aber sie ist von ihm, dem starken Mann seit den Koalitionsverhandlungen, nicht zu trennen. Gabriel muss sich und den Sozialdemokraten und allen anderen Demokraten auch beweisen, dass er die Anerkennung verdient. Und er weiß es. Lange nicht war er so diszipliniert wie heute. Wie lange, das ist die Frage.

Sein Rücken wird immer runder - er erinnert an eine Kanonenkugel

Zumindest kommt er immer mal wieder zu spät, sogar zur Kanzlerin, zu den Kollegen, überhaupt. Aber er hat auch viel zu tun, steht mächtig unter Dampf. Wer ihn bei der Arbeit sieht, der bekommt eine Ahnung davon. Der sieht, wie jüngst bei Fragen nach der Kabinettsklausur in Meseberg, dass sein Rücken immer runder wird, bis er plötzlich an eine Kanonenkugel erinnert, die gleich aus dem Stuhl losschießen könnte.

Aber er hat ja seinen Plan, und deshalb schießt er eben nicht los, poltert nicht, zerschlägt nichts, kein Fitzelchen politisches Porzellan, sondern antwortet fast sanft, für seine Verhältnisse, dazu ernsthaft, geduldig. Du bist dein wichtigstes Führungsinstrument, sagt ein Coach – und Sigmar Gabriel führt sich selbst, erkennbar. Er führt sich sehr ordentlich. Sehr aufgeräumt. Sehr zielstrebig.

Vier Jahre sind eine lange Zeit? Sie können sehr kurz sein, wenn man ein Bild korrigieren muss von der Partei und von sich. Die Jahre in der Bundesregierung könnten doch auch morgen, übermorgen, in einem Jahr, in zweien vorzeitig zu Ende sein, wer weiß das schon. Die Welt hält sich nicht an die Pläne der SPD. Nicht mal die SPD hält sich immer dran.

Und von dem Plan weiß sie ja noch nichts. Nichts Genaues, muss man sagen. Denn der Ursprung liegt weiter zurück. Damals wurde Gabriel nicht ganz so genau betrachtet wie heute, und wenn, dann vornehmlich mit Argwohn. Es ist 2006. Sigmar Gabriel ist damals Umweltminister. Er bereitet sich auf eine Tagung seines Ministeriums mit der Industriegewerkschaft Metall in einem Berliner Hotel vor. Auch schon eine wichtige Sache, damals, diese Sache mit den Gewerkschaften, diese Entfremdung. Aber da passiert ihm diese Idee.

Gabriel ist eine Art wandelndes Lexikon der Sozialdemokratie, eines der Gewerkschaftsbewegung dazu, die doch eigentlich immer Bestandteil der Sozialdemokratie war. Er erinnert bis heute, was er einmal über einen 1972 veranstalteten Zukunftskongress der IG Metall in Oberhausen unter dem Thema „Qualität des Lebens“ gelesen hat. Qualität des Lebens! Da ist er, der Begriff. Gutes Leben, Qualität des Lebens – und woran die Bundesregierung, die neue, die des Jahres 2014, arbeiten will, kommt ihm entgegen.

Jetzt sitzt er dafür im richtigen Amt, einem der klassischen, einem mit Würden und Bürden. Ein Amt, das alles verbindet, was ihm wichtig war und ist – gutes Leben und gute Arbeit, gutes Auskommen, und zwar jedweder Art, auch das der Sozialdemokraten mit den Gewerkschaften. Das hat er aus der Zeit mit und unter Gerhard Schröder, dem Niedersachsen, dessen Weg er kreuzte, gelernt: Nur in dieser Verbindung ist gesellschaftlicher Fortschritt im Ausgleich der Interessen möglich, auch der sozialdemokratischen, als Partei zu überleben.

Von unten nach oben, und immer stramm gegen die Nazis

Ausgleich der Interessen, und das Gemeinwohl ist mehr als die Summe von Einzelinteressen …

War da nicht was?

Genau, Gabriel sprach diese Woche im Bundestag, es war seine erste Regierungserklärung, eine zur Energiewende, und er redete genau darüber. Mit diesen Worten. Als spräche aus ihm die, sagen wir, Summe seiner Einzelerinnerungen.

Der Kongress 1972 war initiiert von Otto Brenner. IG-Metall-Vorsitzender, Vorsitzender der internationalen Metaller, ein programmatischer Kopf, ein Streiter für die Mitbestimmung, SPD-Mann, früh im Widerstand gegen die Nazis in Hannover, später Ratsherr und Landtagsabgeordneter, kurz: einer der Großen der West-Republik und ein großer Gewerkschafter der Bundesrepublik. Der Kongress, auf dem dann auch der Bürgerpräsident Gustav Heinemann sprach, war gewissermaßen Brenners Erbe, bevor er starb. Aber das braucht man einem wie Gabriel nicht zu sagen. Der weiß das – und auch, wer Willi Bleicher war, ganz besonders der: ein weiterer großer Gewerkschafter der IG Metall. Einer, den Gabriel kennengelernt hat, Ende der 70er Jahre, als er bei den „Falken“ war.

Vielleicht hat sich ihm dessen Lebensweg so eingeprägt, weil er in ihm etwas zum Klingen bringt. Bis heute. Man muss ihn nur einmal kurz fragen, die Antwort kommt prompt. Da gibt es doch diesen Film über Bleicher, dessen Titel und Inhalt ihn tief beeindruckt habe: Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken. „Dieser Satz drückt den Kern jeder modernen Demokratie aus: Wir leben als Freie und Gleiche.“ Als Gleiche. Das gilt auch für die aktuelle Politik, die Koalition, die Kanzlerin.

Von unten nach oben, und immer stramm gegen die Nazis: Das ist Willi Bleicher. Ein ehemaliger Kommunist, dann Sozialdemokrat, ein linker Gewerkschafter, über den der christdemokratische Oberbürgermeister von Stuttgart, Manfred Rommel, unter großem Beifall sagte: „In Willi Bleicher verbindet sich das Charisma des Arbeiterführers mit der Vernunft des Sachkundigen und der Menschlichkeit dessen, der mehr Unmenschlichkeit ertragen musste als andere.“ Yad Vashem ehrte ihn als „Gerechten unter den Völkern“. Einer, so ganz anders als Gabriels Nazi-Vater.

Summer seiner Erinnerungen

Die großen Themen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie damals waren Strukturpolitik, Energiepolitik, Wohnungsbau, Verkehrsfragen. 1983 wird eine Abteilung Technologie und Humanisierung der Arbeit beim DGB-Bundesvorstand geschaffen.

Alles das zählt zur Summe von Gabriels Erinnerungen. Ja, und ist davon nicht bis heute etwas zu merken? In der vergangenen Woche geht es doch auch um Bleicher und Brenner, um Technologie und Humanisierung der Arbeit, um Wohnungsbau, Verkehr, Mobilität, Strukturpolitik, alles das, was Deutschland wirtschaftlich stark macht. Oder machen soll. Da kommt noch was. In den nächsten Wochen.

„Die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft muss über eine innovationsorientierte Umweltpolitik intensiviert werden. Das ist die Antwort auf die Schlüsselfragen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung im 21. Jahrhundert“, sagte Gabriel auf dem Treffen 2006. Was sperrig klingt, ist leicht zu übersetzen: ökologische Industriepolitik. Das soll kommen. „Sie macht den Standort Deutschland fit für die Zukunft.“ Hat Gabriel schon vor Jahren gesagt.

Die Idee des technischen Fortschritts wieder zu entdecken, wenn einer davor keine Angst hat, dann er. Die Kanzlerin hat sie auch nicht. Und das, auch das, verbindet die beiden. Weil Angela Merkel und Sigmar Gabriel darin unisono ein Hilfsmittel sehen, weil sie aus je ihrer Sicht als ehemalige Umweltminister, die sie eigentlich im Amt immer noch sind, das ökologisch Gebotene mit dem ökonomisch Vernünftigen verbinden wollen. Es geht doch um die Qualität des Lebens.

In anderen Ressorts regiert er mit, überall redet er mit

Er hat seinen Plan. Inhaltlich. Und personell außerdem. Kein Sozialdemokrat hat es gewagt, in einer Koalition die eigenen Leute so straff zusammenzuhalten, anzuführen. Nicht einmal Gerhard Schröder; der galt ja nur immer als einer, der führt. Gabriel hat den Turbo eingeschaltet. Die Union sortiert sich noch, da hat er schon die Schaltstellen in seinem Ministerium neu besetzt, umbesetzt, herumgewirbelt. Schnell wird klar: Der Minister will Energie freisetzen und, nicht zuletzt, seine zeigen.

In anderen Ressorts regiert er mit, überall redet er mit bei der Besetzung wichtiger Stellen. Und es gibt welche, die behaupten, er habe die Staatssekretäre in allen sozialdemokratischen Ressorts bestimmt, nicht ganz allein, aber doch weitgehend im Alleingang. Nur das Auswärtige Amt, das ist die große Ausnahme.

Gabriel und Frank-Walter Steinmeier verbindet vieles, die Sozialisation unter Schröder, die politische Herkunft aus Niedersachsen, allerdings auch das: ein wechselseitiges Misstrauen. Wobei das von Steinmeier wohl ausgeprägter ist. Deshalb und weil Gabriel ihn zugleich als Vertrauensanker für die Sozialdemokratie in der öffentlichen Meinung schätzt, seine Bedeutung genau so einschätzt, kann Steinmeier handeln, wie er es für richtig hält. Solange er sich aufs Auswärtige konzentriert. Im Inneren konzentriert sich Gabriel darauf, die Macht der SPD zu konzentrieren.

Alle anderen sozialdemokratischen Minister stimmen sich mit Gabriel ab, alle Staatssekretäre mit seinem langjährigen Intimus Rainer Sontowski, der ihn besser lesen kann als alle, die sozialdemokratischen Abteilungsleiter werden von Oliver Schmolke betreut, der unter Steinmeier Planungschef der SPD-Fraktion war – neben allem Misstrauen eine vertrauensbildende Maßnahme.

Bei den anderen muss er das Vertrauen noch schaffen. Noch überrollt er sie, die Minister und die Kontrahenten von Hannelore Kraft bis Olaf Scholz. Vereinnahmung in rasender Geschwindigkeit, im Rhythmus einer Dampfmaschine – selbst Krafts Mitarbeiter sind in Berlin eingebunden. Doch wehe, Schnelligkeit geht einmal vor Gründlichkeit und es folgen Fehler: Dann wartet Scholz, der Mann, der sich als Inbegriff sozialdemokratischer Exekutive versteht. Und nicht nur er.

Ein amüsierter Blick - sie hat ihren Spaß mit Gabriel

Einstweilen schauen und hören alle auf die Signale, die Gabriel sendet, und zwar in viele politische Richtungen. In Richtung der Kanzlerin zuerst, der er so flott bei der Energiewende zuarbeitet, dass er sich gestatten kann, ihr nach Meseberg für eine gute Vorbereitung zu danken. Aber auch in Richtung der FDP, der Grünen. Da hat doch sein Abteilungsleiter Schmolke ein viel beachtetes Buch übers Sozialliberale geschrieben; und Stefan Kapferer ist Staatssekretär geblieben, der aus der Zeit von Philipp Rösler stammt und früher Wahlkämpfe für die FDP organisiert hat. Der neue Staatssekretär Rainer Baake wiederum ist ein Grüner, während Sabine Hepperle vom Brüsseler Büro des Deutschen Industrie- und Handelskammertages an die Spitze der Mittelstandsabteilung gekommen ist.

Solange es ihre Vorstellung von der Qualität des Lebens stärkt, des Regierungslebens, wird die Kanzlerin ihn gewähren lassen. Dieser amüsierte Blick auf der Regierungsbank – sie hat ihren Spaß mit Gabriel. Er macht den Betrieb, den sie gerne hat, aber nicht selbst machen will. Er bringt die eigenen Leute auf Touren – und sie weiß doch: auch gegen sich, wenn er es überdreht. Bremsen kann sie besser. Auch ihn, besser als es die Sozialdemokraten gegenwärtig können. Noch ist Sigmar Gabriel frei und gleich. Nur soll er es nicht mit Angela Merkel aufnehmen. Er hat ihr leises Lächeln nicht gesehen, mit dem sie seine langen Ausführungen in Meseberg über das, was jetzt zu tun sei, quittierte.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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