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Sigmar Gabriel im Interview: "Kinder zu haben, darf nicht länger Armutsrisiko sein"

SPD-Chef Sigmar Gabriel über sozialdemokratische Frauenpolitik, den Fehlstart des Kanzlerkandidaten und den Grund, warum seine Partei 2009 die Bundestagswahl verloren hat.

Von
  • Antje Sirleschtov
  • Hans Monath

Herr Gabriel, warum mögen Frauen Peer Steinbrück nicht?

Meine Frau mag ihn. Und sie findet, er ist der richtige Kanzlerkandidat.

Demoskopen bescheinigen dem Kandidaten, dass er ein Problem bei Frauen hat. Warum ist das so?

Ich gebe nichts auf diese Spökenkiekerei. Es kommt darauf an, dass jemand gute Politik macht, die den Alltag der Frauen in den Blick nimmt. Und da gibt es viel zu tun in Deutschland.

Was denn?

Für die SPD und für Peer Steinbrück steht ganz oben auf der politischen Tagesordnung, endlich dafür zu sorgen, dass die Verbindung von Kindererziehung mit Beruf und Karriere einfacher wird, um die Situation alleinerziehender Mütter zu verbessern. Und auch der Kampf gegen die drohende Altersarmut ist vor allem ein Kampf gegen Frauenarmut im Alter. Unser Vorschlag für eine Solidarrente kommt zu 75 Prozent den Frauen zugute, denn sie wurden in den letzten Jahren in den Niedriglohnsektor abgedrängt. Zu alldem hüllen sich selbst die Frauen bei CDU/CSU und FDP in Schweigen. Stattdessen geben Frau Merkel und Frau von der Leyen das Geld, das wir für Kitas so dringend brauchen, für das Betreuungsgeld aus.

Peer Steinbrück als Vorkämpfer für Frauenrechte?

Wo es um Frauenrechte geht, da kümmern sich Union und FDP mehr um die oberen Etagen der Gesellschaft. Peer Steinbrück sagt zu Recht: Natürlich brauchen wir eine Frauenquote in Aufsichtsräten. Aber er und die SPD wollen sich eben nicht damit zufrieden geben, dass wir ganz oben in der Einkommenspyramide die Situation von Frauen verbessern, aber in der Mitte und unten alles so schlecht und ungerecht lassen, wie es ist. Für mich ist es einer der größten sozialpolitischen Skandale überhaupt, dass Frauen in Deutschland im Jahr 2012 noch die gleichen Verhältnisse vorfinden wie 1912: Sie verdienen drastisch weniger als die Männer. Jedes Jahr bekommen wir von der EU einen blauen Brief, weil die Lohnunterschiede im Schnitt bei 22 Prozent liegen. Das werden wir ändern. Auch von Leih- und Zeitarbeit und prekärer Beschäftigung sind überwiegend Frauen betroffen.

Deshalb sollen die Frauen auf eine SPD-Regierung hoffen?

Wenn die SPD regiert, dann wird ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, der dafür sorgt, dass die Frauen nach acht Stunden Arbeit am Tag nicht auch noch zum Sozialamt gehen müssen. Und Frauen sind auch betroffen, wenn es darum geht, dass nicht jeder in Deutschland bis 67 arbeiten kann. Wenn diese Frauen nach 45 Versicherungsjahren abschlagsfrei in Rente gehen können und Kindererziehungszeiten und Zeiten der Arbeitslosigkeit mitgezählt werden, dann ist auch das Politik, die etwas für Frauen tut und nicht nur den Anschein erweckt, sie täte es.

Steinbrück will das Ehegattensplitting abschaffen. Was soll geändert werden?

Das Ehegattensplitting fördert ein Lebensmodell, das man nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen kann und das vor allem für Frauen große Risiken bringt. Es setzt wirtschaftliche Anreize dafür, dass in der Regel Frauen wenig oder nichts verdienen, wenig eigene Rentenansprüche erwerben. Und was vermutlich das Unsinnigste ist: Das Ehegattensplitting fördert unabhängig davon, ob eine Familie Kinder hat oder nicht. Außerdem ignoriert es, dass heute sehr viele Paare auch ohne Trauschein Verantwortung für den anderen übernehmen, auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Der Staat sollte die Übernahme von Verantwortung honorieren und vor allem Familien mit Kindern helfen. Und er darf dabei nicht nur einen einzigen Lebensentwurf im Blick haben, nämlich den der klassischen Ehe. Wir wollen dafür sorgen, dass Familien mit Kindern besser gefördert werden. Und zwar nicht als Zulage für alle, sondern so gestaffelt, dass Kleinverdiener mehr bekommen und die Gutverdiener weniger. Kinder zu haben, darf in Deutschland nicht länger Armutsrisiko sein.

Der Regierung wirft Gabriel Heuchlerei vor.

Am 9. Dezember will die SPD Steinbrück zum Kanzlerkandidaten küren. Was erwarten Sie von ihm auf dem Parteitag?

Er wird klar und präzise deutlich machen, wie man Deutschland besser regiert und den dreijährigen schwarz-gelben Stillstand beendet. Er wird vor allem erklären, was unser Ziel für die Zukunft Deutschlands und Europas ist: die wachsende soziale und kulturelle Spaltung wieder zu überwinden. Die SPD ist die Partei der fleißigen Leute. Und die haben immer weniger von ihrer Arbeit und Anstrengung. Dafür wird ein anderer Teil der Gesellschaft immer wohlhabender und verabschiedet sich aus der Verantwortung für das Gemeinwohl. Das müssen und werden wir in Deutschland ändern.

Wie konnte es zu dem Fehlstart des Kandidaten seit seiner Benennung kommen?

Die Debatte um Nebentätigkeiten war nicht einfach, aber Steinbrück hat mit seiner Transparenzoffensive getan, was man von allen Abgeordneten verlangen muss: nämlich alles offenzulegen. Mehr als heuchlerisch ist es, dass CDU/CSU und FDP nicht das Gleiche tun. Das ist überfällig in Deutschland. Die Bürgerinnen und Bürger haben das Recht zu wissen, woher ihre Abgeordneten Geld bekommen und wofür.

Trägt die SPD dem Kandidaten fehlendes Fingerspitzengefühl bei einem gut bezahlten Vortrag in Bochum und den Berater, der früher Hedgefonds beraten hat, nach?

Das Geld aus Bochum hat er gespendet. Er hätte das nicht tun müssen, weil rechtlich alles in Ordnung war. Aber er hat offen gesagt: Das habe ich damals falsch beurteilt. Ich finde das eine Seite von Peer Steinbrück, die besonders sympathisch ist: dass er seine Haltung überprüft, wenn ihm Argumente begegnen, die ihn überzeugen.

Muss sich der Parteichef den suboptimalen Start Steinbrücks zurechnen lassen?

Als Parteivorsitzender bin immer für alles verantwortlich. Vor allem, wenn etwas nicht optimal läuft. Das ist schon ok. Aber Sie werden erleben, dass die SPD Peer Steinbrück mit großer Geschlossenheit zum Kanzlerkandidaten wählen wird. Mit ihm an der Spitze werden wir einen Wahlkampf führen, dessen Ziel es ist, eine neue soziale Balance in Deutschland herzustellen, in der die soziale Marktwirtschaft wieder gelten kann. Denn diese Aufgabe hat die CDU unter Frau Merkel nicht gelöst. Weder bei der Rente noch bei der Frage, wie in Deutschland Einkommen und Vermögen verteilt sind, hat die Regierung Merkel den alten Prinzipien von Ludwig Erhard zur Geltung verholfen.

Steinbrück als Kandidat für Erhard-Fans?

Auch eher konservative Mittelständler und Handwerksmeister finden es unerträglich, dass die Finanzmärkte ganze Staaten in die Katastrophe geführt haben und wir deshalb jetzt riesige Schulden abtragen müssen, ohne dass die Verursacher daran beteiligt sind. Die Bändigung der Finanzmärkte und ihre Besteuerung ist nicht nur für klassische SPD-Wähler das richtige Programm. Und genau dafür steht in Deutschland einer: der Sozialdemokrat Peer Steinbrück.

Mit dem Rentenbeschluss sieht Gabriel die SPD auf einem guten Weg.

Über den Rentenbeschluss der SPD haben Sie gesagt, nicht nur das Ergebnis, sondern der Prozess der Entscheidungsfindung sei wichtig gewesen. Warum?

Weil es in Wahrheit eine nachholende Debatte war, die in der ganzen Gesellschaft geführt werden müsste. Und die große Zustimmung zu unserem Rentenkonzept in den Umfragen dieses Wochenendes zeigt das ja auch. Wir haben diese Diskussion geführt. Die CDU unterdrückt sie. Die SPD ist dann gut, wenn sie sich mit der Lebensrealität der Menschen auseinandersetzt. Das haben wir getan. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre ist eine Konsequenz des demografischen Wandels. Es gibt aber hunderttausende Menschen, die nicht einmal bis 65 arbeiten können, weil ihre Berufe körperlich so anstrengend sind. Wir werden in den nächsten Jahren eine wachsende Altersarmut bekommen. Wir müssen dafür sorgen, dass jemand, der 30 bis 45 Jahre gearbeitet hat, mehr kriegt als jemand, der nie gearbeitet hat.

Die SPD hat der Rente mit 67 einst zugestimmt.

Aber wir haben uns offenbar nicht in ausreichendem Maß mit ihr auseinandergesetzt. Wir waren uns auch nicht einig. Das war auch ein Grund dafür, dass wir die Bundestagswahlen 2009 verloren haben.

Haben Sie die Realität damals nicht gesehen?

Wenn die SPD eine Aufgabe hat, seit 150 Jahren, und auch im Jahr der Bundestagswahl, dann ist es in allererster Linie die Bekämpfung der Armut. Sechs Millionen Menschen in Deutschland müssen für weniger als acht Euro in der Stunde arbeiten. 1,5 Millionen müssen jeden Tag an einer Tafel um Essen anstehen, weil ihr Einkommen nicht mal für Lebensmittel vom Discounter reicht. Jeder zweite neue Job ist ein befristetes Beschäftigungsverhältnis. Dann muss man sich nicht wundern, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet.

Das Gespräch führten Hans Monath und Antje Sirleschtov. Das Foto machte Georg Moritz.

Sigmar Gabriel (53) trat noch als Schüler in die SPD ein und ist seither politisch aktiv. Er war Ministerpräsident in Niedersachsen und Umweltminister der großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel. Nach der verlorenen Bundestagswahl 2009 wurde Gabriel zum SPD-Vorsitzenden gewählt. Die Lage seiner Partei beschrieb er damals als „katastrophal“, es werde ein langer Erneuerungsprozess nötig sein. Seither tritt Gabriel für mehr offene Debatten in seiner Partei ein und versucht, die verschiedenen Strömungen zu integrieren. Seit 2012 ist Gabriel zum zweiten Mal verheiratet. Seine Frau ist Zahnärztin in Magdeburg, beide leben dort und in Goslar. 2012 wurde auch seine zweite Tochter geboren, für deren Betreuung Gabriel eine Auszeit nahm.

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