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Politik: Sippenhaft

Chinas Behörden rächen sich an der Familie des Bürgerrechtlers Chen: Sein Neffe wurde überfallen, jetzt wird ihm Mord vorgeworfen.

Chen Guangcheng hatte es geahnt. Selbst wenn der blinde chinesische Bürgerrechtler, der immer noch in einem Pekinger Krankenhaus behandelt wird, demnächst mit seiner Familie in die USA ausreisen sollte: Das würde, so sagte er, nicht das Ende der Bedrohung für seine Freunde und Angehörigen sein. „Egal, ob ich weg oder noch hier bin, es wird weiter Vergeltung geübt werden.“

Es sieht so aus, als gäben ihm die Ereignisse bereits jetzt recht. Wie der chinesische Anwalt Chen Wuquan dem Tagesspiegel bestätigte, wird Chen Guangchengs Neffen von den lokalen Behörden in der Provinz Shandong Mord vorgeworfen. Chen Kegui ist in Haft. Er hatte sich in der Woche nach der Flucht seines Onkels in seinem Heimatort Dongshigu mit einem Messer gegen Schläger verteidigt, die gemeinsam mit örtlichen Funktionären in sein Haus eingedrungen waren. Was dort geschehen ist, ist völlig unklar. „Ich weiß nicht, was genau in dieser Nacht passiert ist, aber die Behörden denken, dass es Mord war“, sagte der Anwalt Chen Wuquan aus Guangdong, der nicht mit der Familie des Bürgerrechtlers verwandt ist. „Falls die Anklage Mord lautet, könnte die Strafe mehr als zehn Jahre Haft oder Todesstrafe lauten.“

In einem emotionalen und tränenreichen Telefongespräch mit einer Bloggerin hatte Chen Guangchengs Neffe unmittelbar nach dem Vorfall seine Sicht der Ereignisse geschildert. „Ich war nicht der Erste, der sich bewegt hat, sie waren es, die versucht haben, mich zu bekommen“, sagte Chen Kegui. Er habe sich gewehrt und sei aus Angst vor der Rache der Schläger weggelaufen. Am Dorfrand habe er die Polizei angerufen. Zuvor hatte er sich demnach mit zwei Küchenmessern gegen die Eindringlinge gewehrt, die keinen Haftbefehl hatten und von denen er nur den Dorfchef Zhang Jian erkannte. Zhang ist nach Schilderungen von Chen Guangcheng mit verantwortlich dafür gewesen, dass er selbst illegal in Hausarrest kam und misshandelt wurde.

Chen Guangcheng bezeichnete gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters die Vorfälle als „wilde Rache – und das ist jetzt ihr letzter Krieg“. Sein Neffe habe sich verteidigt, sei aber blutig geschlagen worden. „Sie haben ihn so hart geschlagen, dass sein Gesicht noch drei Stunden danach mit Blut bedeckt war“, sagte Chen Guangcheng, der zum Zeitpunkt der Auseinandersetzungen auf der Flucht in die US-Botschaft war.

Chen Kegui deutete im Gespräch mit der Bloggerin vor seiner Verhaftung an, dass er nach den Erfahrungen seines Onkels den chinesischen Gerichten nicht mehr traut. „In China wird das Gesetz mit Füßen getreten“, sagte er schluchzend. „Ich liebe mein Land, aber das hier ist, was es mir zurückgibt.“ Tatsächlich haben Anwälte, die ihn verteidigen wollten, Drohungen erhalten. Der Anwalt Chen Wuquan musste seine Verteidigung ablehnen. „Sie haben mir gesagt, dass ich Probleme bei der jährlichen Überprüfung der Anwaltslizenz bekommen könnte, falls ich den Fall annehme“, sagte Chen Wuquan dem Tagesspiegel. Seine Lizenz wird gegenwärtig von der Anwaltsvereinigung zurückgehalten. Der Anwalt Liu Weiguo aus der Provinz Shandong wird ebenfalls bedroht, soll Chen Kegui aber weiter verteidigen wollen.

In Dongshigu, dem Heimatort seines Onkels, des blinden Bürgerrechtlers, sind die Sicherheitsmaßnahmen nach dessen Flucht noch intensiviert worden. Wie die „Washington Post“ berichtete, halten Schlägertruppen weiterhin Reporter und Besucher von dem Ort weiträumig fern.

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