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Politik: So nah – und doch so fern

DIE TÜRKEI UND EUROPA

Von Gerd Appenzeller

Als die Völker der Welt noch, je nach eigenem Standpunkt, vor 1989 die Welt in Gut und Böse einteilten, gab es einige, wenige Staaten, die sich weder für den Kommunismus noch für den Kapitalismus entscheiden wollten. Sie suchten einen dritten Weg. Sehr erfolgreich waren sie damit nicht. Die CDUVorsitzende Angela Merkel möchte dieses Politikmodell dennoch neu beleben. Die Türkei soll sich aber nicht zwischen alten Ideologien entscheiden, sondern zwischen der totalen Abwendung und der totalen Einbindung in die Europäische Union einen Ausweg finden. Vor den Extremen hat die EU Angst. Deshalb wäre vielen europäischen Politikern eine Türkei am liebsten, die sich eng an Europa lehnt, ohne in dessen politische Strukturen voll integriert zu sein. Dafür wirbt Frau Merkel seit Sonntag in Ankara, und Wolfgang Schäuble, der Chef-Außenpolitiker der Union, soll ihr dabei helfen.

Schwierig wird Merkels Weg von der parteipolitisch bestimmten Taktik zu einer tragfähigen Strategie, weil die Türkei ganz klare Vorstellungen hat. 1963 unterzeichnete sie ein Assoziierungsabkommen mit der damaligen EWG, seit 1999 beruft sie sich auf die offizielle Ernennung zum Kandidaten. Ob es zu Beitrittsverhandlungen kommt, wird der Europäische Rat im Dezember entscheiden. Die Türkei selbst sieht für sich nur einen Weg: hinein nach Europa. Deswegen hat die Regierung Erdogan das Land umgekrempelt wie in den 40 Jahren zuvor nicht. Demokratische Strukturen wurden verordnet, mehr persönliche Freiheit; die Unterdrückung der Kurden sei Vergangenheit, versichert die neue Regierung. Dass Europa sich dem Beitrittswunsch immer noch verschließt, schieben die Türken auf eine vermeintlich anti-islamische Stimmung, auf eine christliche Wagenburgmentalität der EU.

Die mag es geben, aber aus den Europäischen Verträgen darf sie sich nicht speisen. 1993 in Kopenhagen, 1995 in Madrid und 1997 in Luxemburg hat die EU ihre Beitrittskriterien bekräftigt. Jeder europäische Staat kann Mitglied werden, der die Beitrittskriterien wie Demokratie, Achtung der Menschenrechte und eine funktionierende Marktwirtschaft erfüllt – und dessen Aufnahme die EU nicht überfordert. Ein christliches Glaubensbekenntnis zählt nicht dazu.

Könnte ein islamisches Land also EU-Mitglied werden? Die Antwort ist ein klares Ja. Religiöse Toleranz gehört fest in den europäischen Wertekatalog. Die Zweifel an der Europa-Fähigkeit der Türkei resultieren denn auch aus völlig anderen Beobachtungen. Die EU ist stolz auf unverhandelbare Grundwerte. Dazu gehören die fundamentale Bedeutung der demokratischen Staatsform und einer unabhängigen, von politisch oder religiös fundierten Einreden freien Rechtsprechung. Dazu rechnet der Verzicht auf Folter und die Verfolgung ethnischer Minderheiten. Dazu zählt die Gleichberechtigung der Geschlechter.

Das uns aus muslimischen Ländern vermittelte Frauenbild steht dazu in absolutem Gegensatz. Die Türkei hat beim Abbau autoritärer Strukturen und der Förderung der Rechtsstaatlichkeit Fortschritte gemacht. Aber von Verhältnissen wie in den derzeitigen EU-Staaten oder auch den zehn Beitrittsländern ist sie immer noch weit entfernt. Ein Angebot, über die Mitgliedschaft zu verhandeln, kann es erst geben, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Das von der Türkei bislang praktizierte Vorgehen ist zwar im wohlverstandenen Eigeninteresse richtig – nur als Demokratie hat die Türkei eine Chance. Aber ihre Einordnung des „Wenn, dann“ ist falsch. Sie darf nicht reformieren, weil sie in die EU eintreten möchte. Sondern sie darf über den Beitritt verhandeln, nachdem sie reformiert hat. Dafür braucht man keinen dritten Weg.

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