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"Solare Baupflicht" in Marburg: Sie kriegen was aufs Dach

Geht Marburg den Weg in die "Ökodiktatur"? Die Kritiker der "solaren Baupflicht" sehen es so. Denn sie zwingt Hauseigentümer, Sonnenkollektoren zu installieren. Mancher fragt, wie viel Repression sein darf für das Gute.

Der Diesel an der Tankstelle kostet auch hier 1,20 Euro. Die „sauren Zipfel“, eine Wurstspezialität, die die Lokale im Gewirr der Innenstadtgassen mit ihren Fachwerkhäusern anbieten, sind nicht aus Biofleisch. Auf der zweiten Seite der Lokalzeitung „Oberhessische Presse“ verkündet ein Pfarrer den Bibelspruch des Tages, und im Sitzungssaal der Stadtverordnetenversammlung, einem schmucklosen Zweckbau, ordnet die rot-grüne Verordnetenmehrheit von Marburg, es ist Freitag vor einer Woche, die Wortmeldungen mit Rednerliste und Tagesordnung.

Der Umweltausschuss tagt und debattiert abschließend die „Satzung zur solaren Baupflicht“, kurz: Solarsatzung. Sie verpflichtet ab sofort Hausbesitzer, bei einem Umbau ihres Hauses eine Solaranlage für Warmwasser zu installieren. Es ist eine Maßnahme, die hier eigentlich alle befürworten und die auch jenseits von Marburg als vernünftig gilt auf dem Weg zu mehr Klimaschutz und weniger Atomkraft. Im Wendland versammeln sich gerade, eine Woche darauf, Zigtausende, die das wollen, und die Sonne ist ihr Symbol. Trotzdem zeigt auch der Fall Marburg, wie schwierig etwas durchzusetzen ist, sogar wenn es alle für richtig halten.

Die Sonne ist im Marburger Zweckbau ebenfalls gegenwärtig. Auf dem Flur vor dem Sitzungssaal hängen die Auszeichnungen, mit denen sich Marburg als Solarhochburg profiliert: Bundessieger Luftqualität 2006, Deutscher Solarpreis 2008, Preisträger kommunaler Klimaschutz 2009, Aufstieg in die Solarbundesliga 2009.

Drinnen im Saal geht alles sehr korrekt und bürokratisch zu. SPD-Oberbürgermeister Egon Vaupel und die rot-grünen Vertreter reden auf die Opposition ein: „Niemand muss eine Solaranlage aufs Dach bauen, wenn sie nicht wirtschaftlich ist“, heißt es, einer der vehementesten Fürsprecher ist Umwelt-Bürgermeister Franz Kahle von den Grünen. Es gebe hohe Subventionen und niedrige Bußgelder, soziale Härteklauseln und Ausnahmeregeln, man könne auf andere erneuerbare Energien ausweichen, bald komme eine EU-Richtlinie, die ohnehin solare Wärme fordert. Vaupel sagt: „Das ist eine Satzung, um den Wert der Häuser zu steigern. Warum sprechen Sie von Zwangssatzung? Wenn Sie ein Haus bauen, müssen Sie Stellplätze für Autos schaffen, aber das nennt niemand Zwangssatzung!“

Wie viel Zwang und Repression darf sein, um das Gute zu erreichen? Die Gegner haben für ihr Unbehagen eine schlagkräftige Parole gefunden: Sie werfen ihrer Stadtregierung vor, eine „Ökodiktatur“ zu errichten.

Diese Marburger Mischung aus Klimaschutz im Kleinen und Widerspruch im Großen elektrisiert Politiker, Lobbyisten und Umweltschützer im ganzen Land. Immer mehr Kommunen sehen eine Chance, Klimaschutz mit Sparzwang zu verbinden, grüne Jobs zu schaffen und die Innenstädte attraktiver zu machen. In Marburg haben sich, erzählt man im Rathaus, Stadtverwaltungen aus Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Hessen und Thüringen informiert. Viele nur heimlich, denn sie haben Angst vor dem Vorwurf „Ökodiktatur“.

Auf Bundesebene wird gerade heftig darüber gestritten, wie viel Klimaschutz man von Hausbesitzern fordern kann. Im Energiekonzept der Bundesregierung hatte Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) ursprünglich geplant, die Eigentümer zur besseren Wärmedämmung zu verpflichten. Damit scheiterte er, die Fraktionen von CDU und FDP und die Lobby der Eigenheimbesitzer strichen die Verpflichtungen aus dem Gesetz. Und genau das versucht dieselbe Koalition in Marburg nun auch.

Als „rechtswidrig“ und „reine Ideologie“ schmähen sie die Solarsatzung. „Ökodiktatur“, da ist das Wort wieder, sagt Hermann Uchtmann, der für die „Bürgerliste Marburg“ im Parlament sitzt. Er ist zwar theoretisch für Solarenergie, aber praktisch gegen die Solarsatzung: Das habe mit Umweltbewusstsein nichts zu tun, sagt er. „Vor allem sind wir gegen den Zwang.“ Die Härteklauseln seien zu ungenau, für ältere Hausbesitzer amortisiere sich die Investition nicht. Er redet sich in Rage: „Ich bleibe dabei, es ist eine Diktatur!“ Es werde ein Gesetz „durchgepeitscht“, das nur die rot-grüne Klientel bediene, „die die Welt retten will“.

Es gibt von denen, die sich aufgerufen fühlen, die Welt zu retten oder das jedenfalls mal wollten, nicht wenige hier. Marburg hat eine linke Tradition, zu Zeiten des Kalten Krieges saß lange die DKP im Stadtparlament. Mehr als 21 000 der 60 000 Innenstadtbewohner sind Studierende, die Universität ist neben der pharmazeutischen Industrie wichtigster Wirtschaftsfaktor. Aber auch jenseits von DKP und Universität ist man in Marburg nicht gegen Klimaschutz. Nicht mal in der Marburger Sektion von „Haus und Grund“. Man rate den Mitgliedern zur „energetischen Sanierung“, heißt es dort. Statt auf Zwang vertraue man jedoch auf die Zugkraft höherer Subventionen. Auch die schwarz-gelbe Landesregierung Hessens lässt aus Wiesbaden verlauten, die Solarsatzung sei eine „überflüssige Entmündigung“ der Bürger.

Harald und Dietlind Maier-Metz verstehen diese Aufregung nicht. Vor einem Jahr hat das pensionierte Lehrerpaar sein großzügiges Reihenhaus im begehrten Marburger Südviertel sanieren lassen und eine Solaranlage aufs Dach gebaut. „Ein tolles Gefühl“, sagt Dietlind Maier- Metz. „Wir vermeiden Treibhausgase, sparen Gas, einen knappen Rohstoff, und haben trotzdem immer warmes Wasser.“ Für das Paar war klar, dass sie auch auf der Baustelle nach einem alten Grundsatz der Umweltbewegung handeln würden: global denken, lokal handeln.

Jetzt leuchtet die Fassade ihres Hauses sonnengelb, und die Sonne im Wassertank rechne sich, sagt Harald Maier- Metz: 41 Prozent weniger Heizkosten im vergangenen Jahr, rund 1000 Euro gespart, da mache sich die Anlage in zehn Jahren bezahlt. Und wenn sie irgendwann ihren Kindern das Haus vererben, dann als ökologisches Wertobjekt.

Der Monteur, der ihnen die Anlage aufs Dach gebaut hat, Kurt Junk, mit seinem kleinen Betrieb vor den Toren der Stadt, ist quasi ein Öko-Aktivist im Blaumann. Seit Jahrzehnten versucht Junk, seine Kunden und Bekannten von den langfristigen ökonomischen Vorteilen der erneuerbaren Energien zu überzeugen. Und immer, wenn der Ölpreis hoch war, dann hat man gern auf ihn gehört. „2008 hatten wir einen Ölpreis von 130 Dollar pro Fass“, sagt Junk, „damals sind wir mit den Lieferungen nicht nachgekommen, es gab einfach keine Anlagen mehr, die wir montieren konnten.“

Derzeit liegt der Barrelpreis bei etwa 86 Dollar. Aber wenn der wieder steigt, und damit rechnet Junk, würden die Leute auch wieder nach Alternativen schreien. „Keine Ahnung“, sagt er, „wie wir allen eine Solaranlage aufs Dach stellen sollen, die dann eine wollen.“ Die Solarsatzung interessiere dann niemanden mehr. Aber das ist schon wieder Zukunft.

Der Streit geht um das Hier und Heute, um das Wie, nicht das Was. Um das Verordnen von Maßnahmen, was man ja auch als beglückend empfinden könnte, denn es erspart einem die Mühe der eigenen Meinungsbildung.

Der Oberbürgermeister Vaupel erinnert daran, dass für die Stadt die 4,5 Millionen Euro Energiekosten der „zweitgrößte Kostenfaktor im Haushalt“ sind. Und daran, dass der Landkreis Marburg bis 2040 vollständig auf erneuerbare Energien umsteigen will. Die Ideologie kommt ins Spiel bei der Frage, ob man den Hausbesitzer zu wirtschaftlichem Denken und ökologischer Vernunft zwingen kann.

Auf keinen Fall, sagt die bürgerliche Opposition: Wenn es sich rechnet, machen es die Leute von selbst.

Stimmt nicht, sagt das linke Lager: Menschen seien oft träge und entschieden sich gegen die Vernunft. Regeln und Normen müssten da nachhelfen.

Die an die Vernunft des Menschen glauben, sind in der Minderheit. In diesem Sinne beschließt am Ende der Debatte der Umweltausschuss mit 7:4 Stimmen die Solarsatzung, die Marburg einzigartig macht in Deutschland. Das Parlament folgt dem Votum.

Wenn der Landtag in Wiesbaden nun, wie bereits angekündigt, die Rechtsgrundlage für die ganze Satzung kippen sollte, liegt das Schicksal der Sonnenenergie wieder in den Händen der Juristen. Die haben da schon Erfahrung: Marburgs erste Solarsatzung von 2008 wurde von der Regierung kassiert.

Natürlich denkt Rot-Grün in Marburg nicht nur global, sondern auch lokal. Im März wird gewählt. Es gibt keine Umfragen, also reklamiert jeder die Stimmung der Bevölkerung für sich. Für die Koalition spricht die glänzende ökonomische Lage der Stadt: Die Rücklagen von 40 Millionen Euro sind höher als die Schulden, der Haushalt von rund 200 Millionen Euro freut sich darüber, dass immer mal wieder unerwartet viele Steuern fließen, und OB Vaupel ist stolz auf das Lob, das seine Haushaltsführung vom „Bund der Steuerzahler“ bekommt. Vermieter genießen wegen der studentischen Wohnungsnot nicht den allerbesten Ruf. Da ist eine Verordnung, die Hauseigentümer zu Öko-Maßnahmen verpflichtet, durchaus populär – so populär, dass der Grüne Franz Kahle, sozusagen der Vater der Solarsatzung, wohl selbst gegen Vaupel antreten wird.

Die Sonnenanbetung Marburgs brachte der Stadt einen grünen Ruf ein, der weltweit echote. „Sogar von der ,New York Times’ war jemand da“, sagt OB Vaupel stolz. „Es geht auch darum, in Marburg ein Wir-Gefühl zu unterstützen.“

Das ist das Stichwort für Udo Kuckartz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Marburger Philips-Universität. Sein Institut liegt eingeklemmt zwischen Bundesstraße und Bahngleisen jenseits des Flusses in einem Gebäude, das auch mal eine energetische Sanierung nötig hätte. Seit langem forscht Kuckartz zur Frage, wie sich das Umweltbewusstsein in Deutschland entwickelt: Was wissen die Menschen von Umweltproblemen, welche Lösungen ziehen sie vor, welche Opfer würden sie bringen? „Auf der Wir-Ebene sind wir sehr weit“, sagt Kuckartz, „aber auf der Ich-Ebene kommen wir nicht richtig voran.“ Soll heißen: Alle sind dafür, dass „wir“ mehr für den Klimaschutz unternehmen müssen, aber bei „mir“ passt es gerade nicht: Das Geld fehlt, andere Dinge sind wichtiger.

Die Debatte um die Solarsatzung ist für Kuckartz ein Paradebeispiel für diese Spannung: Einerseits habe die Solarenergie in Deutschland ein unglaublich gutes Image: „90 Prozent der Menschen stehen ihr positiv gegenüber.“ Andererseits ist man allergisch gegen Zwang, wenn es um private Konsumentscheidungen geht. „Diese Zwickmühle ist besonders interessant“, sagt er. Seine wissenschaftliche Neugier lässt ihn auf eine Umsetzung der Solarsatzung hoffen. Denn es gehe um ein „soziales und politisches Experiment“.

Bernhard Pötter[Marburg]

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