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Politik: „Solche Fälle lassen niemanden kalt“

Familienministerin Leyen (CDU) über Probleme der Unterschicht und das Bremer Drama

Hat SPD-Chef Kurt Beck mit seiner Warnung recht, dass die Unterschichten zu einem Problem werden?

Ich warne davor zu verallgemeinern. Auch viele Eltern, die nur über wenig Geld verfügen, vermitteln ihren Kindern Geborgenheit, geben ihnen Chancen und finden wieder einen Weg aus der Armut. Richtig ist aber: Wir leben in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation. Die bisher bindenden und schützenden Strukturen wie Großfamilie, Dorf- oder Kirchengemeinschaften gibt es kaum noch, sie geben nicht mehr so viel Halt. Es ist noch nicht gelungen, ein neues, modernes unterstützendes Netz aufzubauen. Das Drama der Familien in sozial schwierigen Verhältnissen ist, dass sie isoliert sind, dass Bildung keinen Wert mehr hat und sie zwei- bis dreimal häufiger als andere Gruppen innerfamiliäre Gewalt erleben. Diese Mischung ist für Kinder katastrophal. Sie wachsen in einer Beziehungsleere auf, meistens ist ihr Hauptkontakt der Bildschirm. Sie haben auch Angst. Und Angst lähmt. Sie lernen nicht, das Leben zu entdecken, sie wachsen in eine desolate Haltung hinein.

Was hilft dagegen – höhere Transfers?

Geld alleine würde nicht helfen. Schlimmer sind Beziehungsleere, der schlechte Gesundheitszustand und die Bildungsarmut. Die Kinder brauchen vor allem Kontakte nach außen. Sie müssen in eine beziehungsreiche Umgebung, in Kinderkrippen oder -tagesstätten, geholt werden. Und in den Tagesablauf ihrer Eltern muss Struktur hineinkommen.

Wie viele Kinder gibt es, die unter solchen Bedingungen aufwachsen?

Das ist schwer zu sagen, die Übergänge sind fließend. 2,5 Millionen Kinder sind von Sozialleistungen abhängig. Aber ein Drittel dieser Familien gelingt spätestens nach zwei Jahren der Sprung über die Armutsgrenze. Der Anteil der Kinder in Armut mit deutschem Hintergrund ist seit 1990 nicht gestiegen, aber der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund hat sich verdreifacht. Ihren Familien fehlt der Zugang zur Sprache. Deshalb fordere ich den Sprachtest im vierten Lebensjahr, damit wir den Kindern auch die Tür öffnen können durch Förderung. Diese Familien haben oft in den Herkunftsländern gelernt, dass man ohne Ausbildung mit einfachen Arbeiten Geld verdienen kann. Das gilt für die zweite und dritte Generation der Migrantenfamilien hier aber nicht mehr. Ihnen können wir den Wert von Bildung nur über eine Kooperation von Kindertagesstätten und Eltern vermitteln.

Sind bestimmte Milieus anfälliger für Dramen wie das um den Bremer Kevin?

Solche Fälle sind wahrscheinlicher, wenn Eltern sozial abrutschen. Auch im Bremer Fall hatten beide Eltern selbst so massive Probleme, dass sie nach menschlichem Ermessen unfähig waren, eine tiefe, innige Beziehung aufzubauen, die notwendig ist, um ein Kind zu schützen.

Sie haben ein Frühwarnsystem angekündigt. Wie setzen Sie das durch?

So ein Fall wie der Kevins lässt niemanden kalt, der in der Familien- oder Sozialpolitik eine verantwortliche Position hat. Deshalb haben wir uns mit Ländern und Kommunen zusammengesetzt, um ein dichtes Netz der Hilfe für diese Kinder vom ersten Lebensjahr an zu knüpfen. Ärzte, Hebammen, Jugendämter und Kitas bilden eine Kette der Verantwortung. Wo Lücken sind, muss man Familienmanager einsetzen – das wäre bei Kevins Familie so gewesen. Wir haben internationale Erfahrung aufgegriffen – dieses Wissen wird gebraucht. Das zeigt mir auch die enorme Nachfrage aus den Kommunen nach den besten Modellen, die unser Ministerium erarbeitet.

Das Interview führte Hans Monath

Ursula von der Leyen (48) ist seit fast

einem Jahr Bundesfamilienministerin. Die CDU-Politikerin aus Niedersachsen ist

selbst Mutter von

sieben Kindern.

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