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Flüchtlinge verlassen einen Bahnhof in Mazedonien.

© REUTERS/Stoyan Nenov

Soll der Westbalkan in die EU?: Undemokratische Staaten schaden der Gemeinschaft

"Entweder wird der Westbalkan in die EU kommen, oder die Menschen kommen zu uns", sagt der Integrationsbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion. Doch Kranke für gesund zu erklären, trägt nicht zu deren Heilung bei. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Es ist ein menschlich anrührender Appell, mit dem sich der Integrationsbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Josip Juratovic, auf tagesspiegel.de zu Wort meldete. Die steigende Zahl von Flüchtlingen aus den Staaten des Westbalkans erklärte er mit der schwindenden Aussicht auf wirtschaftlich bessere Zeiten in der Region. „Die Menschen kommen, weil ihnen in der Heimat mit den stockenden EU-Beitrittsverhandlungen auch die letzte Perspektive verloren gegangen ist“, sagt er. „Statt an der EU-Außengrenze in Ungarn Mauern zu bauen, müssen wir die Ursachen der Flucht bekämpfen, indem wir die verlorene EU-Perspektive wiederherstellen ... Sicher ist: Entweder wird der Westbalkan in die EU kommen, oder die Menschen kommen zu uns.“

Josip Juratovic, 1969 in Kroatien geboren, kam 1974 mit seiner Mutter nach Deutschland. Er kennt den Balkan aus eigener Erfahrung. Man versteht, dass ihm das Schicksal der Menschen am Herzen liegt. Die steigenden Flüchtlingszahlen aus der Region scheinen seine These zu bestätigen. In den ersten sechs Monaten gab es 31 400 Asylanträge von Menschen aus dem Kosovo, 22 209 aus Albanien, 15 822 aus Serbien, 6704 aus Mazedonien, 4061 aus Bosnien und Herzegowina und 2047 aus Montenegro.

Alle diese Länder haben eine EU-Beitrittsperspektive. Die Bundeskanzlerin hat dies vor wenigen Tagen während ihrer Balkanreise in Sarajewo, der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina, noch einmal ausdrücklich betont. Aber das gilt unter der Voraussetzung, dass die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in diesen Staaten den Standards der Europäischen Union entsprechen. Wie diese Voraussetzungen für einen EU-Beitritt aussehen, hat die Gemeinschaft am 22. Juni 1993 in Vorbereitung der Osterweiterung in den sogenannten Kopenhagener Kriterien festgeschrieben:

Einzig Mazedonien kann tatsächlich als Opfer falscher Hoffnungen gelten

„Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“. So steht es in Artikel 2 des EU-Vertrags.

Außer Kosovo und Bosnien-Herzegowina haben alle Balkanstaaten einen Antrag zum Beitritt in die EU gestellt. Viele, auch die beiden eben genannten Länder, erhalten bereits ganz erhebliche finanzielle Zuwendungen der Europäischen Union, um die wirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Verhältnisse im eigenen Land zu verbessern. Allerdings geschieht genau das in vielen Fällen nicht. Das ist auch der Grund für die schleppenden Beitrittsgespräche.

Die EU-Perspektive dieser Staaten geht, und das übersieht Josip Juratovic vielleicht, nicht etwa zurück, weil die EU kein Interesse mehr an diesen Ländern hat – das Gegenteil ist der Fall. Die Kommission in Brüssel betont, genauso wie dies der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs und das Europäische Parlament tun, ihr allergrößtes Interesse an einer politischen und ökonomischen Stabilisierung des Balkans – gerade auch vor dem Hintergrund der permanenten Versuche Russlands, in der Region wirtschaftlich und strategisch an Einfluss zu gewinnen.

Einzig Mazedonien kann tatsächlich als Opfer falscher Hoffnungen gelten. Das Land war auf einem guten Weg, bis Griechenland im törichten Streit um den Staatsnamen alle Beitrittsgespräche blockierte. Heute wird Mazedonien autoritär regiert. Aber diese Entschuldigung gilt nicht für Kosovo, nicht für Bosnien und Herzegowina, nicht für Serbien und Montenegro. In diesen Staaten sind weder eine unabhängige Justiz noch die Wahrung von Minderheitenrechten garantiert. Überall herrscht Korruption, bis in die Verwaltungen hinein gibt es kriminelle Strukturen. Drogenhandel, Geldwäsche, Kinderarbeit und Gewalt gegen Frauen sind Alltag.

Und das alles sollte nun durch eine beschleunigte Annäherung an die EU besser werden? Soll der Kranke für gesund erklärt werden, um die Heilung zu beschleunigen? Da ist Europa gewarnt. Mit Rumänien und Bulgarien wurden 2007 aus übergeordneten strategischen Gründen zwei Staaten aufgenommen, die weder damals noch heute die Kopenhagener Kriterien beachten. Die Roma werden nach wie vor diskriminiert, erhebliche EU-Mittel zu ihrer Integration entweder nicht oder falsch genutzt. Und Ungarn, seit 1999 EU-Mitglied, ist auf vielen Gebieten von Rechtsstaatlichkeit weit entfernt.

Bei keinem der drei Ländern hat die EU-Mitgliedschaft zu einer Verbesserung der Verhältnisse geführt. Wer die Aufnahme undemokratischer Staaten in die Europäische Union fordert, legt die Axt an die Wurzeln der Gemeinschaft.

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