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Peter Müller

© Thilo Rückeis

Soziale Gerechtigkeit: ''Für 1,15 Euro können Kinder nicht essen''

Im Tagesspiegel-Interview spricht Peter Müller, Ministerpräsident des Saarlandes, über Gerechtigkeit bei Hartz IV, Arbeitslosengeld I und die Mathe-Bücher seiner Söhne.

Die große Koalition hat stets die Losung ausgegeben: Wir wollen Arbeit schaffen und nicht Arbeitslosigkeit finanzieren. Bricht Kurt Beck mit dem Prinzip?

Die große Koalition hat Arbeit geschaffen. Wir haben sinkende Arbeitslosigkeit und einen historischen Höchststand an Beschäftigung. Dass bei der Bundesagentur für Arbeit die Vermittlung an erster Stelle stehen muss, ist unstreitig. Davon getrennt zu sehen ist die Frage, wie lange Lohnersatzleistungen zur Verfügung gestellt werden, wenn ein Mensch seine Arbeit verliert. Ich glaube nicht, dass Kurt Beck mit seinem Vorschlag zur Verlängerung des Arbeitslosengelds I das Prinzip verletzt, dass Arbeit zu schaffen Vorrang hat.

Franz Müntefering findet das schon.

Ich habe nicht diesen Eindruck. Franz Müntefering vertritt bei der Laufzeit des ALG I eine andere Auffassung. Im Grunde läuft das auf eine Abwägung hinaus, was man in den Vordergrund stellt. Wenn Sie die Frage nach der Gerechtigkeit nach vorne stellen, ist es logisch und plausibel zu sagen: Wer länger eingezahlt hat, soll auch länger Leistung erhalten. Wenn Sie einen anderen Aspekt voran stellen, könnten Sie sagen: Je kürzer Transferleistungen gezahlt werden, um so schneller wird jemand wieder Arbeit aufnehmen.

Das glauben Sie aber nicht?

Ich unterstelle der Mehrzahl der Menschen, die arbeitslos sind, dass sie ein hohes Interesse daran haben, so schnell wie möglich wieder in Arbeit zu kommen. Das gilt unabhängig davon, ob sie kürzer oder länger Leistungen der Solidargemeinschaft erhalten.

Ein Einwand lautete: Längeres Arbeitslosengeld führt dazu, dass Firmen ältere Beschäftigte leichter entlassen.

Ich schließe nicht aus, dass es im Einzelfall solchen Missbrauch gab und geben wird. Ich glaube aber nicht, dass das der Normalfall ist. Auch Unternehmen haben ein zunehmendes Interesse daran, erfahrene Mitarbeiter zu beschäftigen. Es gibt auf diesem Gebiet ein echtes Umdenken. Das halte ich übrigens für unumkehrbar, und zwar aus Gründen der Demografie. In den nächsten sechs, sieben Jahren wird unser Potenzial an Arbeitskräften sich in einer Weise verringern, dass wir alle auf die Mitarbeit der Älteren stärker angewiesen sein werden. Das Verhaltensmuster „Unternehmen ersetzen teure Ältere durch billige Jüngere“ gehört der Vergangenheit an und wird sich nicht wiederholen.

Sollte eine Verlängerung des Arbeitslosengelds I zeitlich befristet werden?

Nein, das Prinzip, dass längeres Einzahlen zu längerer Leistung berechtigt, gilt generell. Daher ist für eine Verfallklausel kein Raum.

Die CDU fordert eine aufkommensneutrale Finanzierung dieser Maßnahme. Wieso ist es gerecht, wenn arbeitslose Junge künftig schneller in Hartz IV landen?

Das Prinzip „Wer länger zahlt, kriegt länger Leistung“ hat natürlich eine spiegelbildliche Entsprechung, und die heißt: „Wer kürzer zahlt, kriegt kürzer Leistung.“

Viele Junge finden, dass sie schon kurz genug gehalten werden.

Das kann ich nachvollziehen. Es geht hier aber um eine strukturell gerechte Lösung.

Die ließe sich genauso gut dadurch erreichen, dass das benötigte Geld aus anderen Quellen kommt.

Wir sollten Aufkommensneutralität anstreben. Eine solche Lösung ist möglich. Die Leistungen im Rahmen der Arbeitslosenversicherung liegen nicht unter, sondern über dem internationalen Durchschnitt. Wer auf Aufkommensneutralität verzichtet, muss sagen, wo er das Geld hernehmen will. Kurt Beck denkt ja offenbar an Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit. Das heißt dann aber, dass wir auf Möglichkeiten zur Senkung der Lohnzusatzkosten verzichten müssten. Diese Senkung ist aber zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen geboten.

Kurt Beck will das längere Arbeitslosengeld ans Lebensalter koppeln statt an die Beitragsdauer.

Das ist der zweite schwere Konstruktionsfehler in seinem Vorschlag.

Ja, aber warum denn? Der Bundespräsident, früher auch Kurt Beck, haben darauf verwiesen, dass die Arbeitslosenversicherung eine Risiko-Versicherung ist. Man spart da keine Ansprüche an, sondern die Versicherungsgemeinschaft hilft dem, der es braucht. Wenn man dieses Prinzip schon bricht, kann man doch genauso gut sagen: Ältere haben es schwerer, wieder in Arbeit zu kommen, Ältere brauchen mehr Sicherheit.

Die Arbeitslosenversicherung ist etwas anderes als eine Feuerversicherung. Die Vorstellung der Menschen ist, dass sie durch die eigene Leistung ein Stück Sicherheit für den Fall der Arbeitslosigkeit schaffen. Das finde ich nachvollziehbar. Außerdem: Bereits jetzt ist die Leistungshöhe unterschiedlich. Wieso dann nicht auch die Leistungsdauer?

Frauen, die lange Kinder erzogen haben und dann noch einmal in den Beruf gehen, oder die Menschen in Ostdeutschland – die werden dann alle rausfallen.

Sie fallen nicht raus. Sie bekommen nur Leistungen für eine kürzere Zeit. Das ist beitragsadäquat.

Ostdeutsche Arbeitnehmer können überhaupt erst seit der Vereinigung einzahlen und haben trotzdem ein ganzes Leben lang hart gearbeitet.

Das Prinzip gilt unabhängig vom Wohnort.

Bis vor kurzem wäre dies ein Gespräch über blanke Theorie gewesen. Wenn der SPD-Parteitag Kurt Beck folgt, muss es dann praktische Politik werden?

Was die Union angeht: Unsere Führungskräfte in Berlin haben einen klaren Handlungsauftrag. Der Parteitagsbeschluss steht, und ich gehe davon aus, dass er umgesetzt wird. Bisher hatten wir dazu keine Chance, weil sich die SPD verweigert hat. Da ist jetzt eine neue Geschäftsgrundlage gegeben.

Als Sie zusammen mit Jürgen Rüttgers vor einem Jahr auf dem Dresdner Parteitag den Antrag auf Verlängerung des ALG I eingebracht haben – war das Folge eines Lernprozesses im Umgang mit den Hartz-Gesetzen?

Für mich ist das kein Lernprozess. Ich war immer schon der Auffassung, dass die Dauer der Leistung an die Dauer der Beitragszahlung gekoppelt werden muss. Aber im Prinzip haben Sie schon recht. Es ist immer sinnvoll und richtig, wenn wir unsere Gesetze nach einiger Zeit noch einmal überprüfen.

Tun wir das doch mal und bleiben bei Hartz IV. Ein Punkt, der vielen Menschen immer wieder Sorge macht, ist das Schonvermögen. Ist das richtig geregelt?

Hartz IV war und ist im Grundsatz völlig richtig und sollte deshalb auch nicht generell infrage gestellt werden. Ein richtiges Gesetz zu machen bedeutet aber nicht, dass dieses Gesetz nicht nachjustiert werden kann. Ich halte es für normal, wenn wir jetzt, nachdem wir einige Erfahrungen gemacht haben, uns die Frage stellen: Gibt es einzelne Punkte in der Hartz-IV-Gesetzgebung, die noch einmal reflektiert werden müssen? Dazu zählt das Thema Schonvermögen. Das sollte man noch einmal prüfen.

Auch nur für Ältere und abhängig von der Einzahldauer?

Nein, das sollte für alle Altersbereiche gelten. Die Aufforderung der Politik, mehr für die eigene Altersvorsorge zu tun, richtet sich ja auch an jeden. Darum ist es geboten, wenn Leistungen der Altersvorsorge in angemessenem Umfang nicht auf Hartz IV angerechnet werden. Das rechnet sich ja übrigens letzten Endes auch für den Staat.

Also: ALG I verlängern, Schonvermögen heraufsetzen – noch etwas?

Nicht ALG I verlängern, sondern aufkommensneutral und beitragsbezogen staffeln. Ansonsten sehe ich Überprüfungsnotwendigkeiten bei der Frage der Hartz-IV-Leistungen für Kinder.

Das müssen Sie uns bitte einmal konkret erläutern!

Derzeit ist in den Hartz-IV-Sätzen für Kinder pro Tag 1,15 Euro für Mittagessen angesetzt. Zu diesem Preis ist aber ein Mittagessen in einer Kindertagesstätte oder einer Grundschule nicht zu bekommen. Der Durchschnitt liegt bei uns an der Saar bei 2,30 Euro. Ich glaube, dass da Handlungsbedarf besteht. Wir im Saarland haben das inzwischen so geregelt, dass das Land und die Kommunen die zusätzlichen Kosten übernehmen.

Der Bund soll den Ländern und Kommunen diese Kosten jetzt ersetzen?

Wir brauchen eine Regelung, die sicherstellt, dass auch Kinder von Hartz-IV-Empfängern am Mittagessen in Schule oder Kita teilnehmen können.

Schulbücher – auch ein Thema, das für viel Ärger sorgt.

Das ist eigentlich geregelt. Bei Nachweis der Bedürftigkeit – und die ist bei Hartz-IV-Empfängern gegeben – übernimmt der Staat die Kosten. Verbessern kann man teilweise die verwaltungsmäßige Abwicklung. Aber: Wenn wir schon bei Schulbüchern sind – mir scheint ein großes Problem zu sein, dass wir viel zu viele davon haben. Von meinen drei Söhnen hat keiner das Mathe-Buch seines Bruders verwenden können, weil jedes Jahr ein neues rausgekommen ist. Das ist nicht plausibel.

Warum nicht?

Ich glaube nicht, dass die Frage, wie man vermittelt, dass eins und eins zwei ist, sich im Jahr 1987 völlig anders darstellt als im Jahr 1997 und im Jahr 2007. Da haben wir erhebliche Möglichkeiten, Kosten zu sparen. Ich glaube zum Beispiel, dass es möglich ist, für jede Jahrgangsstufe in der Grundschule sich auf ein einziges Schulbuch zu beschränken.

Eins für alle Bayern und Saarländer und Berliner…

Nein, ein Schulbuch pro Jahrgang in einem Land – unter Berücksichtigung der kulturpolitischen Souveränität aller 16 Bundesländer. Aber es wäre doch schon viel gewonnen, wenn wir ein Grundschulbuch pro Jahrgang in jedem Land hätten und dieses nicht dauernd verändert würde. Wir haben uns das fürs Saarland jedenfalls vorgenommen.

Kommen wir zurück in die Bundespolitik. Ist Franz Müntefering unentbehrlich für die große Koalition?

Der Vizekanzler Franz Müntefering ist ein wichtiger Eckpfeiler für die große Koalition.

Wieso sieht der Sozialdemokrat Müntefering Gerechtigkeit so anders als der Sozialdemokrat Beck oder Christdemokraten Rüttgers und Müller?

Das hat meines Erachtens mit den Festlegungen der Vergangenheit zu tun. Als der CDU-Parteitag etwas Ähnliches beschlossen hat, wie es Kurt Beck jetzt fordert, hat Franz Müntefering das sehr deutlich zurückgewiesen. Natürlich sieht er sich da in der Tradition der eigenen Erklärungen.

Und Beck, der damals genauso heftig dagegen polemisiert hat, ist nicht ganz so überzeugungstreu?

Ich begrüße ja, dass Kurt Beck sich auf die Position der CDU zu bewegt.

Wie viel Anteil hat daran eigentlich Ihr Landsmann aus dem Saarland …

… Erich Honecker?

Oskar Lafontaine.

Ach so. Nach meiner Überzeugung hat diese Frage nichts mit der Linkspartei zu tun, sondern mit der Organisation von Solidarität. Meine Meinung dazu stand fest, lange bevor Oskar Lafontaine Mitglied der SED-Nachfolgeorganisation geworden ist.

Die CDU hat in Dresden eine Art politischen Doppelbeschluss gefasst – längeres Arbeitslosengeld, aber zugleich weniger Kündigungsschutz. Muss die CDU-Chefin und Bundeskanzlerin das nicht dem Koalitionspartner ebenfalls abverlangen?

Zwischen den Beschlüssen von Dresden besteht formal kein Junktim. Aber es gibt natürlich eine inhaltliche Klammer zwischen beiden Beschlüssen. Wir müssen beides tun, Arbeitslosen in der Arbeitslosigkeit und aus der Arbeitslosigkeit helfen. Aber angesichts der Haltung der SPD sehe ich keine Chance zu Bewegung im zweiten Teil.

Sie sind damals, vor Dresden, für Ihre Haltung oft auch in der CDU schräg angeguckt worden: Noch so einer, der uns den Reformelan des Leipziger Parteitags vermiesen will. Wie würden Sie Ihre Position heute einschätzen?

Um es flapsig zu sagen: Die Geschichte hat mir mal wieder recht gegeben.

Das Gespräch führten Antje Sirleschtov und Robert Birnbaum. Das Foto machte Thilo Rückeis.


JURIST

Nach dem Studium der Rechts- und Politikwissenschaft und seinem zweiten Juraexamen hat Peter Müller zunächst als Richter gearbeitet, zuletzt am Landgericht in Saarbrücken.

CDU-POLITIKER

Müller steht der Gruppe der „Jungen Wilden“ nahe. 2005 gehörte er zum „Kompetenzteam“ der CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel. Er galt als Kandidat für das Wirtschaftsressort. Minister wurde er dann in der Großen Koalition nicht.

MINISTERPRÄSIDENT

Seit 1999, als ihm nach 1985 der erste Regierungswechsel an der Saar gelang, regiert Müller mit seiner CDU das Saarland mit absoluter Mehrheit. Tsp

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