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Mit türkischen Fahnen und Jubel auf Staatschef Erdogan feierten Türken in Deutschland am Kudamm den Sieg des "Ja"-Lagers beim Referendum.

© Paul Zinken/dp

Soziologe Armin Nassehi: "Türkische und westeuropäische Varianten desselben Elends"

Nach dem Referendum in der Türkei spricht der Soziologe Armin Nassehi im Interview über Trotzreaktionen, Identitätspolitik sowie Gemeinsamkeiten zwischen Erdogan- und AfD-Anhängern.

Eine Mehrheit der Türken in Deutschland, die zur Wahl gegangen ist, hat für die Verfassungsänderung gestimmt. Ein Zeichen für gescheiterte Integration?

Was wäre denn gelungene Integration? Wenn sie mit ,Nein‘ gestimmt hätten? Das ist eher eine identitätspolitische Frage. Ganz abgesehen davon: In der Türkei bildet sich in extremer Form jener Kulturkampf ab, den wir auch in Europa beobachten: zwischen einer offenen, pluralistischen Haltung auf der einen und einer identitär auf sich selbst bezogenen auf der anderen Seite. Insofern tragen die Türken, wo immer sie sind, einen ähnlichen Kampf aus wie andere auch. Interessant ist doch, dass hier Menschen in der zweiten oder dritten Generation leben und sich noch als Migranten sehen und auch als solche angesehen werden.

In der Debatte zwischen Europa und Erdogan in den vergangenen Monaten ging es sehr viel stärker um Identitätspolitik als um die  Verfassungsreform. Erdogan hat ganz gezielt an dieses „Türkisch-Sein“ appelliert. Wer in Deutschland mit Ja gestimmt hat, hat in diesem Sinne für eine nationale Identitätspolitik gestimmt. Ein Deutscher hätte analog für die AfD und ein Franzose für den FN gestimmt. Also: Das Andere ist nicht so anders, wie es im ersten Moment erscheint.

Besonders dramatisch sind die Ergebnisse in Nordrhein-Westfalen. Woran liegt das?

Wirklich beantworten könnte ich das jetzt nur auf Grundlage handfester Daten im Rahmen von Wahlforschung. Aber lassen Sie mich etwas spekulieren: In ökonomisch besser gestellten Städten, in denen auch die Migranten am wirtschaftlichen Wachstum teilhaben, stehen solche identitätspolitischen Fragen womöglich nicht so im Vordergrund. Tatsächlich sind die türkischen Communities im Ruhrgebiet stärker in sich geschlossen als zum Beispiel in München oder Stuttgart. Meine These ist, dass ein „Ja“-Wähler mit seiner Stimme türkische Identitätspolitik zum Ausdruck bringen konnte.

Im Süden Deutschlands stimmt zwar immer noch eine Mehrheit für „Ja“, aber weniger signifikant. Hat hier die Politik oder die Gesellschaft insgesamt etwas anders gemacht?

Ach, wie schön wäre es, Schuldige ausmachen zu können. Sind es wir Deutsche? Oder die Türken selbst? Ich glaube nicht, dass das so einfach ist. Klar ist aber: Die wirtschaftliche Situation ist im Süden deutlich besser als im Ruhrgebiet. Das wirkt sich stark auf die Lebenszufriedenheit aus, und das Interesse der Menschen für die Türkei korreliert stark mit ihrer Lebenszufriedenheit in Deutschland. Dazu gehören auch Kontakte außerhalb der eigenen Community, die wiederum korrelieren mit Arbeitsmarkt- und Bildungschancen, die im Süden ebenfalls besser sind. Ich würde wetten, dass diejenigen, die mit Ja gestimmt haben, sich hier eher nicht angekommen fühlen – womit man sich ja seine eigene Situation bequem schönreden kann. Sich nicht angenommen zu fühlen, kann auch eine bequeme Identitätsressource sein.

In Berlin ist die wirtschaftliche Situation vieler Menschen aber deutlich schlechter als in München, und hier gab es die wenigsten „Ja“-Stimmen im Vergleich der großen deutschen Städten.

Berlin ist nochmal ein ganz anderer Fall. Hier haben wir es mit einer viel selbstbewussteren Gruppe von türkischen Migranten zu tun. Berlin ist fast eine selbstbewusste türkische Stadt, und das meine ich durchaus positiv. Da funktionieren in manchen Stadtteilen viele Dinge fast zweisprachig, wenn man so will. Da ist der Fokus viel stärker auf das „Hier“ gerichtet als auf die Türkei. Man muss sich mal fragen, warum sind Leute in der zweiten oder dritten Generation so emotional, wenn es um die Türkei geht. Das liegt auch an dem aktuellen Kulturkampf zwischen Europa und der islamischen Welt, zwischen sehr stark an Identitäten orientierten Konflikten.

Ich will damit niemandem eine Schuld zuweisen, sondern nur eine Gemengelage beschreiben. Und Erdogan hat auf dieser Klaviatur einigermaßen genial gespielt, auch als er es kurz vor der Abstimmung den Deutschen und Europäern noch einmal „So richtig gezeigt“ hat, weil er stets behauptet hat, die Türkei werde vom Westen nicht auf Augenhöhe behandelt.

Armin Nassehi hat den Lehrstuhl für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er wurde 1960 als Sohn einer Deutschen und eines Persers in Tübingen geboren, studierte in Münster und an der Fernuni Hagen und habilitierte sich mit einer Studie über die Biografien ehemaliger Insassen in sowjetischen Zwangsarbeitslagern. Nassehi hat sich auch intensiv mit den Wurzeln des Rechtspopulismus beschäftigt. So hat er im Jahr 2014 einen Briefwechsel mit Götz Kubitschek, einem der prominentesten Vertreter der "Neuen Rechten" geführt, den er später in dem Buch "Die letzte Stunde der Wahrheit" veröffentlicht hat. Armin Nassehi wurde für seine publizistische und wissenschaftliche Arbeit vielfach ausgezeichnet.
Armin Nassehi hat den Lehrstuhl für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er wurde 1960 als Sohn einer Deutschen und eines Persers in Tübingen geboren, studierte in Münster und an der Fernuni Hagen und habilitierte sich mit einer Studie über die Biografien ehemaliger Insassen in sowjetischen Zwangsarbeitslagern. Nassehi hat sich auch intensiv mit den Wurzeln des Rechtspopulismus beschäftigt. So hat er im Jahr 2014 einen Briefwechsel mit Götz Kubitschek, einem der prominentesten Vertreter der "Neuen Rechten" geführt, den er später in dem Buch "Die letzte Stunde der Wahrheit" veröffentlicht hat. Armin Nassehi wurde für seine publizistische und wissenschaftliche Arbeit vielfach ausgezeichnet.

© imago stock und people

Jetzt gibt es diejenigen, die einerseits jegliches Verständnis für Ja-Wähler in Deutschland verweigern, andererseits diejenigen, die sagen, das ist eine Scheindiskussion, weil ohnehin die meisten Türken gar nicht gewählt haben. Wer hat Recht?

Wer jetzt fordert, die türkische Community solle sich zu Deutschland bekennen, den frage ich: Wie denn bitteschön? Indem sie zum Landratsamt gehen und dort ihre Unterstützung des Grundgesetzes verkünden? Das ist politische Rede. Die Bekenntnisse, die Deutsche zu Deutschland haben, möchte ich auch nicht alle so im Klartext gelesen haben. Richtig ist aber: Es zeigt sich im „Ja“ auch ein Nicht-Angekommensein in der Bundesrepublik. Das große Problem unserer Migrationssituation ist und bleibt, dass wir nie ein Einwanderungsland sein wollten, aber eines sind. Das findet sich auf Seiten der Aufnahmegesellschaft wie auf Seiten der Migranten selbst. Ich würde mir Migranten wünschen, denen klar ist, dass sie hier als Deutsche leben und dass das ihr primärer Fokus ist. Aber ich denke eher, dass sich jener Kulturkampf, der auch den Rechtspopulismus im Westen zu einem starken politischen Spieler macht, sich in der türkischen Gemeinde eben in dieser Form ausdrückt.

Grünen-Chef Cem Özdemir hat kritisiert, in Deutschland die Demokratie in Anspruch zu nehmen und sie in der Türkei abzuschaffen.

Wenn Deutschtürken in Deutschland wählen, dann zu 85 Prozent SPD und Grüne. In der Türkei wählen sie dann eher die konservative AKP. Das spricht für unterschiedliche Formen des Pragmatismus: hier im Sinne der Schichtung, dort im Sinne identitätspolitischer Fragen. Ich glaube, das ist der Kern: Erdogan gibt ein Identifikationsangebot, das für die Leute hier billig zu haben ist. Ich würde das als eine Trotzreaktion ansehen und nicht als Votum gegen die Demokratie. Schon weil Erdogan vom Westen aus zu Recht als Antidemokrat und  Autokrat kritisiert wird, macht ihn das für diejenigen wählbar, die dafür empfänglich sind, dass ihnen eingeredet wird, sie würden hier als Menschen zweiter Klasse behandelt. Wie gesagt: Ein Diskriminierungsgefühl ist eben auch eine Ressource.

Was für Konsequenzen sollten aus diesem Abstimmungsverhalten gezogen werden?

Darüber nachdenken, was es für unsere Migrationssituation in Deutschland bedeutet, dass diese identitätspolitischen Herausforderungen existieren und dass sich hier lebende Migranten in einen solchen Konflikt hineinziehen lassen. Jetzt jedenfalls die Türken als Gruppe zu beschimpfen, halte ich für falsch. Ebenso falsch wäre es, alles auf mangelnde Anerkennung und eigene Fehler zu schieben. Damit würde man übrigens so tun, als hätten Türken keine Urteilskraft  und als würden sie nicht selbst entschieden haben – das wäre dann wirklich diskriminierend. Man muss wohl sagen, dass die Türken, die jetzt für einen Autokraten wie Erdogan gestimmt haben, völkischen und identitären Wählern der AfD, des FN oder der FPÖ ähnlicher sind, als es den Anschein hat. Das Integrationsproblem haben wir derzeit nicht mit Türken, sondern mit einem Teil der Bevölkerung, der den comment einer pluralistischen Gesellschaft verlassen hat. Es gibt hier offensichtlich türkische und westeuropäische Varianten desselben Elends.

Das Gespräch führte Ruth Ciesinger. Ein Interview mit Armin Nassehi über Einwanderung und Rechtspopulismus lesen Sie hier.

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