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SPD-Chef Sigmar Gabriel kritisiert Merkel für ihre zaghafte Reaktion auf die Spionageaffäre und fordert den Aufbau europäischer

© Picture Alliance / dpa

SPD-Chef Sigmar Gabriel im Interview: "Man darf politische Macht nie um jeden Preis anstreben"

Im Wedding ist das Leben prall, meint der SPD-Parteichef Sigmar Gabriel. Im Tagesspiegel-Interview spricht er neben seinem Bekenntnis zum Arbeiterbezirk über die Bilanz der Kanzlerin Merkel und die Aufholjagd der SPD. Außerdem erklärt er, warum Rot-Rot-Grün nur eine rechnerische, aber keine politische Mehrheit ist.

Herr Gabriel, wären Sie manchmal gerne Provinzpolitiker?
Ich bin Provinzpolitiker, denn ich komme aus einer eher ländlichen Region und lebe dort auch außerordentlich gern! Ich empfinde das auch nicht als Beleidigung, denn aus der Provinz zu kommen heißt nicht, provinziell zu sein. Außerhalb des Berliner Regierungsviertels wissen die Leute, dass die Mehrzahl der Menschen in dem leben, was Berliner gelegentlich Provinz nennen.

Wir führen das Interview in Ihrer Heimatstadt Goslar. Sie sagten neulich, Goslar sei viel eher Deutschland als Berlin. Warum?

Ich habe mich dabei auf das Regierungsviertel in Berlin-Mitte bezogen. Egal, ob man in Goslar oder Charlottenburg wohnt: Der Lebensalltag der Menschen ist anders, als ihn sich Politiker, Wirtschaftslobbyisten und Medien rund um den Reichstag vorstellen. Außerhalb dieses Bermuda-Dreiecks kommen nur wenige Leute auf die Idee, jeder könne bis 70 arbeiten. Es wundert mich nicht, wenn Politiker, Chefkommentatoren, Wirtschaftslobbyisten oder Professoren die Rente mit 67 oder gar 70 fordern. In diesen Berufen verdient man ordentlich Geld, bezieht selbst sehr hohe Renten und die Belastungen sind nicht so wie bei einer Altenpflegerin, der Aldi-Kassiererin oder dem Kellner in dem Ausflugslokal, in dem wir gerade sitzen.

Mit dem Regierungsumzug war die Erwartung verbunden, dass Politiker in Berlin die Realität einer Großstadt kennen lernen: mit Armut, Arbeitslosigkeit, Migration. Ist das nicht der Fall?

Natürlich kann man in Berlin viele Probleme wie unter einem Brennglas sehen. Dafür muss man sich allerdings auch aus der Dunstglocke des Regierungsviertels raus bewegen. Es tut Politikern aber auch gut, wenn sie eine Heimat haben, in der sie mit dem ganz normalen Leben zu tun haben. Mein Freundeskreis zum Beispiel besteht in seiner großen Mehrheit aus Nicht-Politikern. Das hilft, auf dem Boden zu bleiben. Die Sorge ist ja nicht unberechtigt, dass Politik abhebt und sich nur noch um sich selbst dreht.

Ihr Kanzlerkandidat wohnt seit kurzem in Berlin im Wedding. Wäre das nichts für Sie?

Ich bin kein Berliner. Aber ich finde es eine kluge Entscheidung, dass Peer Steinbrück nicht in einen In-Bezirk wie den Prenzlauer Berg gezogen ist. Im Wedding ist das Leben prall.

Zwei Monate vor der Wahl liegt die SPD in den Umfragen weit hinter der Union. Wie startet man da eine Aufholjagd?

Mit den Menschen reden. Wir können nur gewinnen, wenn wir Politik von unten machen. Politik von oben herab können die anderen besser. Es ist ja nicht so, dass niemand zuhört: Letzte Woche saßen in Halle/Saale ein paar hundert Studierende in einem Hörsaal, um mit mir über Politik zu diskutieren. Dabei war ein Superwetter. Ich hätte als Student vermutlich eher im Biergarten gehockt.

Von Spionageaffäre, Mindestlohn und Mietpreisbremse

In den Umfragen spiegelt sich ein solches Interesse an der SPD aber nicht wider.

Das liegt daran, dass die Menschen noch nicht vor der Entscheidung stehen. 40 Prozent wissen noch nicht, ob sie zur Wahl gehen. Darunter sind viel mehr potenzielle sozialdemokratische Wähler als CDU-Anhänger. Die Konservativen ärgern sich auch über die Politik, gehen aber trotzdem zur Wahl. Sozialdemokratische Wähler bleiben eher zu Hause. Unser größter Gegner ist der Eindruck der Menschen, dass es sich nicht lohnt, wählen zu gehen.

Die Kanzlerin verweist im Wahlkampf auf die gute Konjunktur und niedrige Arbeitslosigkeit. Was setzen Sie dem entgegen?
Nicht einmal Frau Merkel glaubt doch ernsthaft, dass die Politik ihrer Regierung damit etwas zu tun hat. Dass es uns in Deutschland gut geht, hat drei Gründe: Erstens gibt es eine exzellent qualifizierte Arbeitnehmerschaft. Sie sind die eigentlichen Leistungsträger unserer Gesellschaft. Zweitens hat die SPD unter Gerhard Schröder nicht wie andere Länder nur auf Finanzwirtschaft oder die New Economy gesetzt, sondern Deutschland als Industriestandort erhalten. Das ist unser eigentliches Pfund. Und drittens hat Peer Steinbrück in der großen Koalition dafür gesorgt, dass Deutschland besser durch die Finanzkrise gekommen ist, als alle anderen Länder. Die Konjunkturprogramme, die Abwrackprämie oder das Kurzarbeitergeld waren ja SPD-Ideen.

Die Union greift viele Ihrer Themen auf, vom Mindestlohn bis zur Mietpreisbremse. Fehlt der SPD das mobilisierende Wahlkampfthema?

Ich wäre ja froh, wenn eine CDU-Vorsitzende SPD-Politik machen würde. Aber sie ist leider nur eine professionelle Anscheinserweckerin. Man muss auch Angela Merkel daran messen, was sie wirklich getan hat: Vier Jahre lang hat sie keinen Mindestlohn, keine Mütterrente, keine Bankenregulierung und nichts in der Gleichstellungspolitik vorangebracht. Jetzt, kurz vor der Wahl, fallen ihr diese Stichworte alle wieder ein. Nach der Wahl wird das alles wieder vergessen sein. Auch die Wahlversprechen von 50 Milliarden Euro Mehrausgaben ohne Finanzierung. Sie nimmt doch nichts von dem ernst, was sie oder ihre Partei so die Woche über verkündet. Was Angela Merkel da macht, ist wirklich Volksverdummung. Gerade die Parteien CDU und FDP, die so viel Wert auf bürgerliche Werte wie Anstand, Geradlinigkeit und Verlässlichkeit legen, treten genau diese Werte mit Füßen. Eine Demokratie lebt von der Aufklärung der Bevölkerung. Aber Frau Merkel will die Menschen mit unzähligen Versprechen einschläfern. Denn sie kann nur gewinnen, wenn möglichst wenig Menschen zur Wahl gehen. Aber dieses Verhalten ist gefährlich und demokratiegefährdend.

Bezieht sich das auch auf ihr Verhalten in der Spionageaffäre um den amerikanischen Geheimdienst?

Unbedingt. Statt das deutsche Recht und übrigens auch die deutsche Wirtschaft vor der flächendeckenden Spionage durch die USA oder Großbritannien zu schützen, duckt sich die Kanzlerin weg. Jeden Tag gibt es neue Nebelkerzen, um sich um die eigentliche Frage herum zu drücken: Was treiben diese Geheimdienste in unserem Land eigentlich und setzen wir unseren Rechtsstaat durch? Ich wünsche mir eine Bundesregierung, die so mutig wie unter Gerhard Schröder auch den USA gegenüber deutsche Interessen vertritt. Wir erleben gerade live und in Farbe die Auflösung unseres Wertekanons mit. Nicht die Grundrechte müssen sich am staatlichen Handeln messen lassen, sondern umgekehrt. Ich möchte als Staatsbürger nicht mehr und nicht weniger, als dass das wichtigste Rechtsstaatsprinzip weiterhin gilt: Das Gesetz gilt in Deutschland ohne Ansehen der Person oder Herkunft.

Datensicherheit als Exportschlager und die rechnerische Mehrheit von Rot-Rot-Grün

Wie wollen Sie das tun?

Wir müssen Datensicherheit zum deutschen Exportschlager machen – politisch und technologisch. Dafür muss jedes Telekommunikationsunternehmen in Deutschland verpflichtet werden, seine Daten zu verschlüsseln. Wir müssen deutsche und europäische Cloudtechnologien fördern, weil sonst bald alle deutschen Unternehmen und Forschungseinrichtungen am Tropf von Microsoft & Co und damit der NSA hängen. Die Devise muss lauten: Wer optimale Datensicherheit haben will, muss nach Deutschland kommen. Das wird die USA wirtschaftlich unter Druck setzen und hilft vermutlich wesentlich mehr als ein Dutzend hilfloser Politikerbesuche in Washington.

Laut Umfragen interessieren die NSA-Affäre und Datensicherheit kaum jemanden.

Man darf Grundrechtsverletzungen nicht hinnehmen, bloß weil es scheinbar nur wenige interessiert. Gerade junge Leute sind da außerdem sensibel, auch Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Was die USA und die Briten hier machen, ist ja offensichtlich auch massive Wirtschaftsspionage. Und bei älteren Menschen wird sich das auch ändern, wenn die ersten Krankenakten in einem Unternehmen, bei dem man sich gerade bewirbt, oder in der Öffentlichkeit landen.

Die Ausweitung der Geheimdienstbefugnisse und der Sicherheitsgesetze fand unter Rot-Grün statt. Ist Ihre Kritik an der Regierung nicht verlogen?

Das ist doch Quatsch und der billige Versuch von CDU und FDP, die SPD in diesen Sumpf zu ziehen. Vor rund zehn Jahren, als zuletzt ein Sozialdemokrat im Kanzleramt die Geheimdienste kontrollierte, gab es Facebook noch nicht – und die technischen Möglichkeiten zum Ausspionieren von 15 Millionen Mails pro Tag auch nicht. Niemand hat etwas gegen die Zusammenarbeit von Geheimdiensten. Aber das ist doch etwas völlig anderes als die Totalüberwachung unserer Bürger und das flächendeckende Ausspionieren unserer Wirtschaft. Diese Entwicklung hat Frau Merkel wirklich allein zu verantworten. Und wenn sie es – wie sie selbst erklärt – nicht wusste, spricht das auch nicht für ihre Fähigkeit einer zentralen Aufgabe des Kanzleramtes nachzukommen: die Geheimdienste zu kontrollieren.

Mit Rot-Rot-Grün wäre ein Regierungswechsel womöglich machbar. Warum schließen Sie dieses Bündnis aus?

Die Linke ist nicht eine Partei, sondern zwei, bestehend aus pragmatischen Linken im Osten und sämtlichen Sektierern und SPD-Hassern im Westen. Rot-Rot-Grün ist nur eine rechnerische und keine politische Mehrheit. Ich halte nichts davon, die Stabilität Deutschlands aufs Spiel zu setzen, nur um mit einer absolut unkalkulierbaren Partei ins Kanzleramt zu kommen. Man darf die politische Macht nie um jeden Preis anstreben. Wer jedes Risiko eingeht, um ins Kanzleramt zu kommen, wird nicht lange dort bleiben. Ich bin Vorsitzender der SPD. Für den ist die nächste Bundestagswahl wichtig, aber die kommenden zehn auch noch.

Die Fragen stellten Cordula Eubel und Christian Tretbar.

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