zum Hauptinhalt

SPD: Erosion einer Volkspartei

Die Sozialdemokraten haben auch am Tag nach der Europawahl Mühe, ihr desolates Abschneiden zu erklären. Aber noch ist die Bundestagswahl für sie nicht verloren.

Der Schock sitzt tief. Auch einen Tag nach der Europawahl tat sich Franz Müntefering deshalb am Montag in der Berliner Parteizentrale schwer, eine überzeugende Erklärung für die desaströsen 20,8 Prozent zu finden, die seine Partei am Sonntag kassiert hatte – das schlechteste SPD-Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl seit 1945. Fast trotzig bemühte sich der SPD-Vorsitzende stattdessen, nach der Sitzung des Parteipräsidiums Optimismus zu verbreiten. „Wir sind überzeugt, dass unser Kurs der richtige ist“, sagte er. Seine Partei sei „selbstbewusst und entschlossen“, trotz alledem.

Vor allem jedem neuen Flügelstreit und jeder Debatte über den Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier versuchte Müntefering so bereits im Keim zu ersticken. Der Parteichef ahnt, nichts wäre mit Blick auf die Bundestagswahl in dreieinhalb Monaten gefährlicher.

Von beidem ist bislang allerdings – zumindest nach außen – wenig zu spüren. Tatsächlich machen viele führende Genossen seit Sonntagabend vor allem einen ratlosen Eindruck. Keiner von ihnen hat mit einem derartigen neuerlichen Wahldebakel gerechnet.

Schon die 21,5 Prozent bei der Europawahl 2005 galten bislang als absoluter Tiefpunkt. Vor fünf Jahren konnte den Sozialdemokraten immerhin noch der heftige innerparteiliche Streit um Gerhard Schröders Reformagenda und die Einführung von Hartz IV als Erklärung dienen. Viele traditionelle SPD-Wähler waren dadurch tief verunsichert und hatten sich von der Partei abgewandt.

Viele Sozialdemokarten glaubten jedoch eigentlich, sie hätten diese Phase der Entfremdung von den eigenen Wählern mittlerweile hinter sich gelassen. In den vergangenen Monaten hat sich die Partei weitgehend von der umstrittenen Reformpolitik verabschiedet. In der Krise gab sie wieder traditioneller Politik den Vorzug: Der Staat soll es richten, wo der Markt versagt; die Reichen sollen für die Folgen der Krise zahlen.

Bei der Opel-Rettung hatte sich zudem vor allem Kanzlerkandidat Steinmeier mächtig für staatliche Finanzhilfen und die Rettung der Arbeitsplätze ins Zeug gelegt. Vergeblich. Auch die sozialdemokratischen Attacken gegen CSU-Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Gutenberg in der heißen Phase des Europawahlkampfes blieben wirkungslos.

Lediglich etwa 5,5 Millionen Deutsche haben am Sonntag ihr Kreuz bei der SPD gemacht. Bei der Bundestagswahl 2005 waren es noch etwa 16,2 Millionen, also mehr als dreimal so viele.

Selbstverständlich ist eine Europawahl etwas anders als eine Bundestagswahl. Aber die Mobilisierungsschwäche der SPD ist eklatant und lässt sich nicht nur mit dem Desinteresse der Wähler an Europa und der daraus resultierenden niedrigen Wahlbeteiligung erklären.

Die SPD-Strategen klammern sich nun an die Hoffnung, dass dies im Herbst anders sein wird. Auch 2005 haben sich die Sozialdemokraten schließlich auf den letzten Metern des Wahlkampfes noch aus dem Stimmungstief gekämpft. Doch die Sozialdemokraten mussten an diesem Sonntag bitter erfahren, dass die Erosion ihrer Wählerbasis noch kein Ende gefunden hat. Die Zahl ihrer Stammwähler, die unter allen Umständen ihr Kreuz bei der SPD machen, wird immer kleiner.

Zugleich hat sich gezeigt, dass der Putsch vom Schwielowsee im vergangenen Sommer, der Sturz von Kurt Beck durch das Duo Müntefering/Steinmeier, die SPD substantiellen nicht wesentlich nach vorne gebracht hat. Zwar haben beide die innerparteilichen Querelen beendet und die Partei programmatisch neu ausgerichtet. Aber an der sozialdemokratischen Basis ist dies längst noch nicht angekommen, dort steckt das Misstrauen immer noch tief. Die Partei steht, alles in allem und wenn es darauf ankommt, kaum besser da als vor einem Jahr.

Die vordergründigen Gründe für das Desaster bei der Europawahl sind vielfältig, und ein paar waren bei den professionellen Parteienbeobachtern am Sonntag schnell zur Hand. Erste Nachwahlanalysen der Forschungsgruppe Wahlen zum Beispiel zeigen, dass die Wähler der Union sowohl in der Arbeitsmarkt- als auch in der Wirtschaftspolitik die deutlich höhere Kompetenz zuschreiben. Merkel ist zudem beliebter als Steinmeier, und dies nicht nur bei der Bevölkerung insgesamt, sondern auch in den jeweils eigenen Reihen. Als kleiner Koalitionspartner ist die SPD gegenüber der Kanzlerpartei strategisch im Nachteil.

Die Ursachen reichen jedoch noch sehr viel tiefer, und sie lassen sich in einem entscheidenden Satz zusammenfassen: Die SPD hat sich längst noch nicht von der Identitätskrise und der tiefen Verunsicherung erholt, die die Ära Schröder hinterlassen hat.

Die SPD kann zwar darauf verweisen, dass die Bundesregierung im Kampf gegen die Wirtschaftskrise vor allem sozialdemokratische Politik macht. Auch der Aufstieg der Linkspartei wurde gestoppt. Aber beides bedeutet noch lange nicht, dass die Wähler nun unmittelbar zur SPD zurückkehren und sich zerbrochene Bindungen ohne weiteres wiederherstellen lassen.

Noch ist die Bundestagswahl für die SPD nicht verloren. 2005 hat sie gezeigt, dass es ihr gelingen kann, mit einem programmatisch zugespitzten, polarisierenden Wahlkampf und einem charismatischen Spitzenkandidaten viele ihrer verunsicherten Wähler in der heißen Wahlkampfphase noch einmal zu mobilisieren. Die Union konnte diese Wähler nicht an sich ziehen, und es gelang ihr offensichtlich auch am Sonntag nicht.

Allerdings sind die Ausgangsbedingungen diesmal völlig andere als vor vier Jahren. Damals kämpfte die SPD mit ihrem Kanzler und begnadeten Wahlmatador Schröder aus der rot-grünen Regierung heraus gegen die bürgerliche Opposition. Dieses Mal sitzen sie mit der Union in der Regierung, was den Möglichkeiten der Polarisierung Grenzen setzt. Und es gibt berechtigte Zweifel, dass Steinmeier in der Lage ist, im Wahlkampf eine ähnliche kämpferische Tonlage zu finden wie sein alter Lehrmeister Schröder.

Die SPD hat also nur noch geringe Chancen. Am kommenden Sonntag trifft sie sich zum Parteitag, um ihr Bundestagswahlprogramm zu verabschieden. Dann muss Steinmeier zeigen, dass er gewillt ist, diese letzte Chancen zu nutzten.  

ZEIT ONLINE

Zur Startseite