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Ein Mädchen mit Kopftuch steht 2015 in einer Schule vor einem Klassenzimmer.

© Wolfram Kastl/dpa

SPD-Migrationspolitiker Aziz Bozkurt: „Multikulti“ für die „nächste Deutsche Einheit“

Der SPD-Migrationspolitiker Aziz Bozkurt definiert im Tagesspiegel-Interview Integration als Voraussetzung für die „nächste Deutsche Einheit“.

Aziz Bozkurt ist seit 2015 Bundesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt in der SPD. Der 35-jährige Wirtschaftsinformatiker nennt sich selbst ein „in einfachen Verhältnissen aufgewachsenes Arbeiterkind“. Wie der Wahlprogramm-Entwurf der SPD aus sicht ihrer AG "Migration und Vielfalt" noch konkretisiert werden sollte, erklärt er im Interview.

Herr Bozkurt, Warum sollte sich die SPD besonders um Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund kümmern? Es gibt schließlich auch Konservative unter den Eingewanderten?

Das stimmt. Es zeigt sich aber, dass die SPD unter den etwa sechs Millionen Migrantinnen und Migranten in Deutschland die Sympathie von etwa 50 Prozent hat. Wir haben, wie eine Studie vom vergangenen Jahr zeigt, auch bei Leuten aufgeholt, die wir früher eher weniger erreichten, etwa bei Russischsprachigen. Wenn wir in dieser Bevölkerungsgruppe auf 50 Prozent Stimmanteil kämen, wäre das ein tolles Ergebnis, erst recht in Zeiten schwindender Parteienbindung.

Eine Studie des Sachverständigenrats SVR zeigte, dass auch Menschen, die viele andere sozialdemokratische Werte gar nicht oder weniger teilen, der SPD zutrauen, sich für ihre Belange einzusetzen. Zu Recht?

Ich denke: Ja. Vorausgesetzt, wir knüpfen wieder selbstbewusst an die rot-grünen Anfänge der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts an. Signale wären aus der Sicht der AG Migration und Vielfalt zum Beispiel ausstrahlungsfähige Projekte wie die Einrichtung eines Migrations- und Teilhabeministeriums und eine gesetzlich festgeschriebene interkulturelle Öffnung.

Da ist der Entwurf des SPD-Wahlprogramms, der in zwei Wochen zur Abstimmung steht, etwas schmallippig. Alle geforderten Maßnahmen zielen auf die migrantische Minderheit ab, dass die Mehrheit sich öffnet, ist nicht zu lesen.

So sehe ich das nicht gänzlich. Dass sich die Behörden unseres Landes für die Vielfalt auf der Straße öffnen müssen, steht im Entwurf. Was fehlt ist die Verbindlichkeit beispielsweise in Form eines Bundespartizipationsgesetzes. Darüber hinaus findet man viele Aspekte im Programm, bei der Arbeitsmarkt-, Familien- oder Bildungspolitik, die gerade Migrantenbetreffen, auch wenn da nicht die Überschrift „Integration“ steht. Ich glaube, dass es das ist, was die Leute wollen, nicht nur Sonderprogramme für Migranten, sondern ein politisches Gesamtkonzept.

Konkrete Forderungen an die gesamte Gesellschaft stehen allerdings nicht im Entwurf – etwa Schulen, die andere kulturelle Hintergründe nicht einfach hinnehmen, sondern sich grundsätzlich verändern.

Der Programmentwurf verträgt sicher noch Bilder einer künftigen Gesellschaft. Daran werden wir noch arbeiten müssen.

Die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz aus Ihrer Partei hat ein Leitbild für ein vielfältiges Deutschland mitformuliert.

Eine positive Erzählung zur Einwanderungsgesellschaft wäre ein tolles Resultat der Programmdiskussion in den nächsten beiden Wochen und da kann man vieles vom Leitbild der Kommission um Aydan Özoguz aufnehmen. Denn wir müssen klar machen: Deutschland wandelt sich, und das Bild von Deutschland muss sich auch wandeln. Die SPD sollte dabei klar machen, dass sie nicht die Richtung des Innenministers Thomas de Maizière einschlägt, ein Schmelztiegel-Modell, das diejenigen ausschließt, die sich nicht gänzlich assimilieren. Sondern dass wir eher an Kanada denken, wo Unterschiedlichkeit wertgeschätzt, aber die Klammer um die Gesellschaft nicht vergessen wird. Wenn Konservative die Leitkultur-Debatte aus der Mottenkiste holen, müssen wir klar sagen: Multikulti ist nicht tot. Wir werden es mit neuem Leben füllen.

Wie sähe das aus?

Zum Beispiel so, dass an Schulen wie in Kanada nicht nur Landesgeschichte gelehrt wird, sondern auch die Geschichte der Herkunftsländer mit einbezogen wird. Multikulturalismus ist keinesfalls das lose Nebeneinander von Kulturen – wie konservative Ewiggestrige immer wieder behaupten. Es bietet sich ein breites Instrumentarium, um den Respekt vor den Unterschieden zu fördern und einen gemeinsamen Rahmen um alle Menschen im Land zu schmieden.

Azis Bozkurt, SPD-Migrations- und Integrationspolitiker
Azis Bozkurt, SPD-Migrations- und Integrationspolitiker

© Promo

Im Programmentwurf stehen Stichworte wie „illegale Grenzübertritte“ oder „konsequenter abschieben“. Könnte auch im Programm konservativer Parteien stehen.

Das liest sich in der Tat sehr technokratisch und reaktiv. Wir wünschen uns ein klares Bekenntnis zum Familiennachzug. Und da wo es um die EU-Außengrenzen im Entwurf geht, wollen wir auch Änderungen. Solange auf dem Weg nach Europa Tausende sterben, muss Seenotrettung absolute Priorität haben. Die harte Linie unserer Koalitionspartnerin ist nicht unsere. Dazu gehört auch, dass wir klar machen, dass die Union uns Dinge abgerungen hat, die eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung auf den Prüfstand stellen müsste: Neben den Einschnitten beim Familiennachzug für subsidiär Geschützte ist es beispielsweise das Sachleistungsprinzip in den Gemeinschaftsunterkünften oder die permanente Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten, die alles andere als sicher sind.

Wo ist der Programmentwurf richtig gut?

Der Abschnitt zur Antidiskriminierungspolitik ist ausgezeichnet. Das nimmt auch die sozialdemokratische Aufstiegserzählung in die Jetztzeit.

Die Forderung nach dem kanadischen Punktesystem wirkt wie ein alter Satzbaustein. Selbst Kanada entscheidet nicht mehr so, wer kommen darf.

In der AG Migration und Vielfalt sehen wir das Punktesystem grundsätzlich kritisch, soweit es an reiner Nützlichkeit von Einwanderern anknüpft. Für uns ist in diesem Part die Symbolik eines Einwanderungsgesetzes als Bekenntnis zu unserer Einwanderungsgesellschaft ein sehr wichtiger Aspekt. Das Punktesystem kann aber eine Ergänzung sein, wenn es die bisher erreichten Möglichkeiten legaler Migration nicht ersetzt. So wenig wie vor Jahren die Green Card wird aber auch ein Punktesystem keinen Ansturm auf Deutschland auslösen. Dafür ist eher entscheidend, wie wohl sich Menschen in einem Land fühlen und wie stark angenommen. Da wäre Kanada ein Vorbild, wo die Einbürgerung schon nach drei Jahren Aufenthalt möglich ist. In Sachen Mehrstaatigkeit dürfen wir sowieso nicht wanken. Wenn jetzt der Generationenschnitt auch von einzelnen Sozialdemokraten diskutiert wird, sendet das ein völlig falsches Signal. Wir brauchen nicht Abwehrkämpfe gegen die Union, sondern echte Schritte nach vorn und eine selbstbewusste Anknüpfung an die rot-grüne Reformpolitik, die wir noch durch die generelle Hinnahme der Mehrstaatigkeit zu vollenden haben. Dadurch werden wir das Zugehörigkeitsgefühl zu unserem Land stärken und die nächste Deutsche Einheit voranbringen.

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