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SPD-Parteitag: Sigmar Gabriel: Der All-inclusive-Vorsitzende

Ein rhetorisches Feuerwerk abbrennen – davon versteht er etwas. Aber kann Sigmar Gabriel auch mehr als bloß Attacke? An diesem Sonntag auf der Parteitagsbühne versuchte er, das zu zeigen.

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Hat er sich diese Geste womöglich schon vorher überlegt? Sigmar Gabriel steht auf der Parteitagsbühne in der alten Postversandhalle in Kreuzberg. Er hat 105 Minuten Rede hinter und rund 500 Delegierte vor sich, die alle kräftig klatschen. Viele hält es nicht auf den Stühlen. Der Parteichef hebt beschwichtigend die Hände, als ob er den Beifall herunterdimmen wollte. „Ihr braucht nicht alle aufzustehen“, ruft er in den rhythmischen Applaus und schüttelt den Kopf. Dann dreht er sich um, ganz bescheidener Arbeiter im Dienst seiner Partei.

So selbstlos kannten die Sozialdemokraten ihren Sigmar bislang gar nicht. Aber vielleicht sollen sie ihn so kennenlernen.

Der Parteitag ein Jahr nach dem Desaster der SPD bei der Bundestagswahl – für die Sozialdemokraten soll er zur ersten Zwischenetappe auf dem Rückweg zur Macht werden. Gabriel muss seiner Partei an diesem Sonntagmorgen zeigen, wie er sie dorthin führen will. Nicht weniger erwarten die Delegierten von der Rede ihres Vorsitzenden.

Es ist zwölf Uhr mittags, als Gabriel in der Arbeitskleidung des modernen Sozialdemokraten – nachtblauer Anzug und knallrote Krawatte – ans Pult tritt. Jeder im Saal weiß, dass der bullige Niedersachse aus Goslar im Harz aus dem Stand rhetorische Feuerwerke abbrennen kann. Bei der Konkurrenz halten sie ihn gar für einen politischen Pyromanen. Doch der 13. Parteichef der SPD hat diesmal anderes im Sinn, als den Parteitag aufzupeitschen. Er will keine Rede halten, die ihre Wirkung zu allererst aus Parolen bezieht. Ihm geht es heute um den Kern sozialdemokratischer Politik, die Daseinsberechtigung seiner Partei: um den Sozialstaat.

„Es gibt etwas, da werden wir besonders gebraucht, weil wir mehr davon verstehen als alle anderen“, sagt Gabriel. Der Sozialstaat sei das Instrument, um Freiheit und Verantwortung zu verbinden, das Instrument für soziale Gerechtigkeit und Fairness. Dessen Verteidigung sei das „Alleinstellungsmerkmal“, das die SPD wieder in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen müsse. Konkret soll die SPD für gerechte Löhne kämpfen, für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, für Aufstiegschancen durch Bildung unabhängig von der Herkunft und für mehr Hilfe für Alleinerziehende. Nachher wird ein alter Weggefährte Gerhard Schröders urteilen, schon lange habe kein SPD-Chef die Bedeutung der Verteilungsgerechtigkeit so stark betont.

Natürlich: Gabriel wäre nicht Gabriel, wenn er die Regierungskoalition nicht mit schwersten Vorwürfen überziehen würde, hart an der Grenze zur Ehrabschneidung. Schwarz-Gelb taucht in seiner Rede nur noch als Chiffre auf für Klientelpolitik und Willfährigkeit gegenüber Lobbyinteressen der Pharma- und Atomindustrie. „Die Union zeigt im Herbst 2010 ihr wahres Gesicht“, ruft er: „Sie ist nicht sozialdemokratisiert. Sie ist auch nicht ostdeutsch, weiblich und liberal. Sondern westdeutsch, männlich und rechts.“ Das wollen sie hören in der ehemaligen Postversandhalle.

Mit den Grünen geht Gabriel rücksichtsvoller um, sie werden noch gebraucht als Koalitionspartner im Bund 2013. Das Problem ist nur, dass sich der einstige Juniorpartner vom Dienst allmählich zur ernsthaften Konkurrenz um die Führungsrolle im linken Lager entwickelt. Umfragewerte von 20 Prozent und mehr – auf dem Parteifest am Abend vor Gabriels Grundsatzrede war der Höhenflug der Ökopartei wichtigstes Gesprächsthema.

Auf dem Parteitag versucht es Gabriel mit Ironie. Er freue sich wirklich, dass es endlich wieder eine „richtige und echte liberale Partei in Deutschland“ gebe. Die Grünen seien eine Projektionsfläche für alle möglichen, sich widersprechenden Wünsche. Dies sei aber kein Grund zur Aufregung. „Denn Politik besteht nicht nur aus Projektionen.“ Wo sie regierten, würden die Grünen schnell zurechtgestutzt.

Dass Gabriel weniger gelassen sein dürfte, als er sich gibt, schimmert in jenen Passagen seiner Rede durch, in denen er auf die Lage in Berlin zu sprechen kommt. Hier müssen die Sozialdemokraten und ihr Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit mit der Spitzenkandidatur der Grünen-Fraktionschefin Renate Künast rechnen. In Umfragen liegen beide Parteien gleichauf. „Ich bin absolut sicher, dass die Berliner im kommenden Jahr wissen, dass man die Zukunft einer Stadt nicht nur mit Bionade und Latte Macchiato allein gestalten kann“, ätzt Gabriel. Weil zu erfolgreichem Regieren „mehr Arbeit“ dazugehöre, sei er sicher, dass Wowereit 2011 sein Amt verteidigen werde. Unbekümmert klingt das nicht.

Es ist eine Art „All-inclusive-Rede“, mit der Gabriel an diesem Sonntag aufwartet: gerechte Löhne, Familienpolitik, die Bildung, die Rente, das Gesundheitswesen, die Kommunalfinanzen und die Zähmung des internationalen Finanzmarktes durch europäische Zusammenarbeit – alles kommt vor. Alles muss angesprochen werden. Es ist, als wolle der Parteichef beweisen, dass er viel mehr kann als Attacke. Und vor allem: dass er sich auch zurückzunehmen versteht.

Gabriel weiß es, die Delegierten wissen es auch: Er wird in drei Jahren bei der Bundestagswahl mit großer Wahrscheinlichkeit ihr Kanzlerkandidat werden. Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier ist nicht zum Parteitag gekommen, er erholt sich noch von der Operation zur Nierenspende an seine Frau. Steinmeier, so heißt es in der SPD-Führung, wird sich einen neuerlichen Anlauf kaum mehr zumuten wollen, nicht nur der Gesundheit wegen. Dafür ist Peer Steinbrück da, der ehemalige Finanzminister. Er erhält zwar ordentlichen Beifall für eine Rede, in der er die Delegierten mahnt, nicht nur an die Interessenlage von Hartz-IV-Empfängern und Rentnern zu denken, sondern auch an die Faktoren, die Wohlstand schaffen. Tatsächlich aber ist Steinbrück der eigenen Partei als Kanzlerkandidat ungefähr so gut vermittelbar wie ein 59-jähriger Langzeitarbeitsloser auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Deshalb scheint die K-Frage in der SPD schon früh geklärt. Jetzt stellt sich die C-Frage. C wie Charakter. Kann Gabriel sein Temperament zügeln? Die alten Vorbehalte – sprunghaft, unstet, launisch und im Zweifel lieber populistisch als prinzipienfest –, es gab in den vergangenen Wochen nicht nur aus Sicht der Jusos genug Gründe, an sie zu erinnern. So war die Verwunderung unter Sozialdemokraten groß, als der Vorsitzende Wochen nach Beginn der Sarrazin-Debatte plötzlich und ohne Absprache den rhetorischen Hammer hervorholte und damit drohte, Integrationsverweigerer aus dem Land zu werfen. Das klang, als rufe der SPD-Chef nach schärferen Gesetzen. Tatsächlich findet sich in der Integrationsresolution, die der Parteitag am Sonntagmittag verabschiedet, davon kein Wort. Auch Gabriel selbst wiederholt die markigen Sprüche nicht. Nur Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky lobt den Vorsitzenden für „ein paar selbstverständliche Sätze“. Buschkowsky: „Wer auf Dauer alle Integrationsangebote verweigert, kann in diesem Land nicht bleiben. Ja, watt denn sonst!“ Aber Buschkowsky spricht nicht auf der großen Bühne, sondern in einem Nebenraum vor Beginn des Parteitags.

Als Gabriel nach eineinhalb Stunden Ansprache bei Thilo Sarrazin angekommen ist, wird es auf einmal sehr still in der alten Posthalle. Bei den langen Ausflügen des Parteichefs in die verschiedensten Politikfelder war das Konzentrationsvermögen des einen oder anderen Delegierten zwischenzeitlich auf eine harte Probe gestellt worden. Nun aber ist förmlich zu spüren, dass es ans Eingemachte geht. Sarrazin habe die staatliche Entscheidung zwischen erwünschtem und unerwünschtem Leben gefordert. „Ich halte diese Wiederbelebung der Eugenik für eine unglaubliche Entgleisung“, sagt Gabriel. Er sagt es ganz ruhig. Und wird doch immer wieder von Applaus unterbrochen.

Die Passagen zum Parteiordnungsverfahren gegen Sarrazin und zur Integration hat Gabriel ganz ans Ende seiner Rede gestellt. Nach eindreiviertel Stunden ist Schluss.

„Machen wir uns wieder an die Arbeit. Alles Gute und Glückauf für euch“, ruft der Parteichef, bevor er das rhythmische Klatschen mit beiden Händen einzudämmen versucht.

Als die Delegierten ihn trotzdem weiter feiern wollen, entzieht er sich dem Jubel: Mit schnellen Schritten steigt er die Treppe vom Podium herunter und geht auf einen Herren mit grauen Haaren zu, der ganz vorne sitzt. Hans-Jochen Vogel. Keiner hat der SPD selbstloser gedient als der Pflichtmensch aus München. Das Bild der beiden Politiker auf der Leinwand über der Bühne wirkt in diesem Moment wie ein Versprechen. Ein Versprechen des Vorsitzenden an seine Partei.

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