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Politik: Sprache ist fast alles

Litauen folgt zwar dem Lockruf des Westens, muss aber nicht den Verlust der eigenen Kultur befürchten

In den Zeiten der sowjetischen Okkupation bekam Litauen zu spüren, was Zwang bedeutet. Jetzt, mehr als ein Jahrzehnt, nachdem es seine Unabhängigkeit erkämpfte, ist das Land wieder dabei, sich zu integrieren – diesmal in die Europäische Union. Und zwar freiwillig. Der Unterschied zwischen damals und heute ist gewaltig. Aber gewisse Gemeinsamkeiten lassen sich dennoch ausmachen. Wie damals gibt das Land einen Teil seiner schwer errungenen Freiheit und Unabhängigkeit wieder ab. So ist die Frage ganz natürlich, warum die Litauer dennoch geradezu euphorisch für den Beitritt zur EU stimmten, während etwa die Slowaken keinerlei Begeisterung zeigten.

Mir scheint, dass die bitteren Erfahrungen einer erzwungenen Integration die Litauer veranlasst haben, geopolitisch und strategisch zu denken. Unter den Bedingungen ökonomischer und politischer Globalisierung hat ein kleiner und ziemlich armer Staat, noch dazu in einer Randlage, ohnehin keine Möglichkeit, wirklich autonom zu sein. Das bestätigt noch einmal der Präsidentenskandal, der fünf Monate lang das Land erschütterte. Der Skandal um Rolandas Paksas kam auch mit russischer Einflussnahme zu Stande.

Diese Unabhängigkeit, so die bittere Lehre, ist zerbrechlich und verletzlich. Es sind Situationen denkbar, wo selbst die größten Anstrengungen von innen heraus nicht reichen. Diesmal reichten sie: Präsident Paksas wurde Anfang des Monats vom Parlament wegen Verfassungsbruchs und Amtsmissbrauchs abgesetzt.

Das Ende der Euphorie

Litauen hat mit dem EU-Beitritt eine strategische Entscheidung getroffen – die einer konsequenten Westbindung. Das Land war mental und kulturell stets ein Teil Europas, nur wurde häufig die Entfaltung dieses Potenzials gebremst, auch gewaltsam unterdrückt. Der Eintritt in die EU hat daher auch etwas mit Rückkehr zu tun – in die eigene Referenzgruppe, wie die Psychologen sagen würden.

Augenscheinlich ist auch, dass die euphorische Periode zu Ende ist. Sie hat ihren Zenit erreicht mit der außerordentlich hohen Zustimmungsrate beim EU-Referendum. Jetzt, wo der Beitritt nur noch eine Frage von Tagen ist, überwiegt eine eher rationale und nüchterne Betrachtungsweise. Das ist keine Regressionserscheinung. Es wird einfach deutlicher, dass eine wirklich neue Etappe staatlicher Existenz beginnt, die auch Stress und Unruhe mit sich bringt, deren ungebremste Dynamik mehr Fragen aufwirft als Antworten bereithält. Die wichtigste und am häufigsten diskutierte Frage lautet: Verliert Litauen nicht seine nationale Identität, löst sie sich auf in dem Ansturm multikultureller Dominanz, die meist nach aggressiven Marktgesetzen funktioniert?

Am Rande Europas

Was die nahe Zukunft angeht, so beunruhigt mich diese Frage nicht. Wichtiger scheint mir ein anderes Problem, das ich so formulieren würde: Bleibt Litauen ein Land an Europas Peripherie, sowohl geographisch als auch kulturell? Heute lässt sich die Situation leider so beschreiben. Die Bildenden Künstler schwärmen von der Biennale in Venedig, die Modedesigner davon, sich in Paris zu etablieren, auch für die Theaterleute zählen vor allem Premieren in den europäischen Metropolen.

Andererseits haben die Litauer, eines der ältesten Völker Europas, ihre Identität in den letzten Jahrhunderten unter besonders schwierigen Umständen zu erhalten gewusst – im Widerstand und im Untergrund, unter schizophrenen Umständen der Zweigeteiltheit. Sollten sie Gefahren wittern für die eigene Identität, da bin ich sicher, werden sie diese auch in einem geeinten Europa zu verteidigen wissen. Ich meine hier natürlich nicht ein nationalistisch-ethnisches Sich-Einigeln, für das nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung plädiert, sondern die Sicherung eigener Würde unter den Bedingungen eines offenen und schöpferischen Dialogs. Wir sind nicht etwas Besonderes, aber etwas Bestimmtes, das es zu erhalten gilt.

Dieses Jahr ist für Litauen wichtig nicht allein wegen des Nato- und EU-Beitritts. Es wird auch ein Jubiläum gefeiert, das der litauischen Sprache gewidmet ist. Mehr als vierzig Jahre lang – 1863 bis 1904 – hatte, nach dem gescheiterten litauisch-polnischen Aufstand gegen die Besatzer, das Zarenregime die litauische Schriftsprache in lateinischen Buchstaben kurzerhand verboten. Ungeachtet dieses Verbots, oder auch deshalb, schützen und pflegen wir unsere Sprache als eines der wichtigsten Elemente nationaler Identität. Daher glaube ich nicht, dass ihr noch in diesem Jahrhundert das Schicksal der irischen Sprache widerfährt. Für mich als Schriftsteller bedeutet das viel.

Aus dem Litauischen von Klaus Berthel. Eugenijus Alisanka gehört zu den bekanntesten Lyrikern seines Landes. Zu Beginn des nächsten Jahres bringt der DuMont-Verlag seinen Gedichtband „Ungeschriebene Geschichten“ heraus.

Eugenijus Alisanka

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