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König Albert II. (links) hat das Rücktrittsgesuch des Premierministers zunächst abgelehnt, um eine politische Krise kurz vor Übernahme des EU-Ratsvorsitzes zu vermeiden. Foto: dpa

© dpa

Politik: Sprachenstreit stürzt Belgiens Regierung

Premierminister Leterme reicht Rücktritt ein – flämische Liberale hatten Koalition verlassen

Fünf Rücktritte in drei Jahren. Nicht viele Politiker können mit solchen Statistiken aufwarten. Yves Leterme, der Premierminister Belgiens, dürfte wohl den aktuellen Rekord halten, was die Auflösung von Regierungskoalitionen angeht. Der flämische Christdemokrat hat am Donnerstag dem belgischen König Albert II. sein Rücktrittsgesuch vorgelegt, das dieser zunächst jedoch ablehnte. Zuvor hatten die flämischen Liberalen die Regierungskoalition verlassen. Ohne deren Unterstützung hätte Letermes Regierung nur eine dünne Mehrheit von 76 der 150 Sitze im Unterhaus des Parlaments gehabt. Damit steht Belgien wohl vor Neuwahlen – ein paar Wochen vor Beginn der belgischen Ratspräsidentschaft der Europäischen Union, die am 1. Juli starten wird.

Grund für den erneuten Kollaps in Brüssel ist der Streit um den Wahlbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde, der schon seit Jahren zwischen den Sprachgruppen schwelt. Eigentlich sollten sich die flämischen und die frankophonen Parteien in dieser Woche endlich auf eine Lösung des Sprachenstreits einigen, aber den flämischen Liberalen ging das Ganze nicht schnell genug und sie haben deshalb ihrem Premierminister das Vertrauen entzogen. „2010 soll kein verlorenes Jahr sein. Mit unserem Austritt aus der Koalition wollen wir den Druck auf die Regierung erhöhen, sodass sie endlich eine Entscheidung trifft“, sagt der Vorsitzende der flämischen Liberalen, Alexander de Croo, zu seiner Entscheidung, die für viele überraschend kam. Sie wollen ihren flämischen Wählern vermitteln, dass sie ihre Interessen besonders wahren.

Der Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde - kurz BHV - ist ein Symbol für die ewige Auseinandersetzung zwischen Flamen und Frankophonen in Belgien. Bisher gibt es in den Gemeinden, die vor den Toren Brüssels aber bereits auf flämischem Territorium liegen, diverse Ausnahmeregelungen für die frankophonen Bewohner. Sie dürfen frankophone Parteien wählen und haben ein Recht auf Gerichtsverfahren in ihrer Sprache.

All das ist den Flamen schon seit Jahren ein Dorn im Auge. Sie wollen die Privilegien abschaffen und den Wahlkreis aufspalten, obwohl in den meisten Gemeinden rund um Brüssel mehr Frankophone als Flamen zu Hause sind. Eine Spaltung würde bedeuten, dass es in den Teilen, die Brüssel zugeschlagen werden, weiterhin zweisprachige Regelungen gäbe. In den dann rein flämischen Teilen aber müssten die Frankophonen auf ihre Privilegien verzichten und könnten dann auch nur noch flämische Parteien wählen.

Die Entscheidung über diese Teilung haben die Politiker in den vergangenen Jahren immer wieder verschoben - aus Angst vor einer offenen Konfrontation zwischen den beiden Sprachgruppen.

Aber nun scheint der Eklat vorprogrammiert: Die Flamen lehnen es ab, Kompromisse mit den Frankophonen zu schließen und wollen die Aufspaltung des Wahlbezirks im föderalen Parlament notfalls gegen den Willen der französischsprachigen Politiker durchdrücken. Das könnte für das Gleichgewicht im belgischen Staat verheerende Folgen haben. „Es ist noch nie vorgekommen in der Geschichte Belgiens, dass die Sprachgruppen tatsächlich gegeneinander gestimmt haben. Das wäre das Ende des belgischen Föderalstaates“, sagt der Politikwissenschaftler Pascal Delwit.

Ruth Reichstein[Brüssel]

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