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Politik: Staatskrise in der Ukraine

Präsident Juschtschenko entlässt Generalstaatsanwalt – und kontrolliert Truppen des Innenministeriums

Es sind Szenen wie bei einem Staatsstreich. Vermummte Polizisten stürmen nachts auf das Gelände der Generalstaatsanwaltschaft in Kiew. Eine Tür treten sie mit Gewalt auf. Die schwer bewaffnete Einheit dringt im fahlen Scheinwerferlicht in das Gebäude ein. Andere maskierte Männer stellen sich ihnen in den Weg. Es kommt zu Handgreiflichkeiten. Der Verlauf der Fronten ist nicht ganz klar. Die Eindringlinge sollen zu einer Spezialeinheit der Polizei mit Namen „Titan“ gehören, die Regierungschef Viktor Janukowitsch nahesteht. Im Gebäude hätten sich die Mitglieder der Spezialeinheit „Alfa“ des vom Präsidenten Viktor Juschtschenko kontrollierten Inlandgeheimdienstes verschanzt, heißt es. Am Morgen versammelten sich mehrere tausend Anhänger des Premiers und des Präsidenten vor dem Gebäude. Sicherheitskräfte schirmen die beiden verfeindeten Lager voneinander ab, um einen Ausbruch der Gewalt zu verhindern.

Die Eskalation der Lage in der Ukraine kommt überraschend. Noch vor einigen Tagen schien sich die seit Wochen schwelende Krise in der Ukraine ihrem Ende zuzuneigen. Doch nun erklärte Premier Janukowitsch in einer Krisensitzung des Kabinetts, Präsident Juschtschenko sei ein Diktator und plane einen Staatsstreich. Der Beschuldigte behauptete gestern allerdings genau dasselbe von seinem Rivalen – unterstellte aber am Freitag inmitten der neuen Staatskrise die Truppen des Innenministeriums seinem persönlichen Kommando. Premier Janukowitsch und das Innenministerium in Kiew wiesen diese Anordnung als illegal zurück. In einer auf der Website des Präsidialamts veröffentlichten Erklärung wurde die Maßnahme mit der Notwendigkeit begründet, einen Einsatz der Innenministeriumstruppen „durch einige politische Kräfte“ zu verhindern, die die nationale Sicherheit der Ukraine bedrohten.

Der vorangegangene Sturm auf das Gerichtsgebäude ist Ausdruck einer politischen Krise, die vom Präsidenten ausgelöst wurde, nachdem Parlamentarier seiner oppositionellen Partei „Unsere Ukraine“ ins Regierungslager gewechselt waren. Juschtschenko bezeichnete die Übertritte als rechtswidrig und löste Anfang April das Parlament auf. Das Lager von Regierungschef Viktor Janukowitsch hatte dagegen protestiert und das Verfassungsgericht angerufen, das zurzeit über die Parlamentsauflösung verhandelt. Inzwischen haben sich beide Seiten darauf geeinigt, Neuwahlen anzusetzen, gestritten wird allerdings über den Termin.

Für das jüngste Chaos ist Präsident Juschtschenko verantwortlich. Der hatte am Donnerstag den ihm verhassten Generalstaatsanwalt Sajatoslaw Piskun entlassen. Schon vor zwei Jahren hatte Juschtschenko vergeblich versucht, den Juristen aus dem Amt zu hebeln. Der Grund: Piskun habe die Ermittlungen über den Dioxin-Anschlag auf ihn verschleppt, der Juschtschenko 2004 fast das Leben gekostet hatte und sein Gesicht entstellte. Der geschasste Generalstaatsanwalt kündigte gestern an, der Anordnung des Präsidenten Folge zu leisten und sein Amt aufzugeben – wenn das Parlament diesem Erlass zustimme. Das allerdings dürfte schwer möglich sein, denn das Parlament ist von Viktor Juschtschenko ja aufgelöst worden.

Piskun verbarrikadierte sich in seinem Büro. Juschtschenko schlüpfte wieder in die Rolle des Staatsmannes und mahnte: „Bewaffnete Leute helfen nicht, diesen Konflikt beizulegen.“ Diese Grenze der demokratischen Ordnung ist in der Ukraine gestern vom Präsidenten und vom Premier überschritten worden.

Knut Krohn[Warschau]

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