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Politik: Staatsspitze mit Kopftuch

In der Türkei gibt es wieder Streit über die Prinzipien der Republik

Auf den Straßen von Ankara wäre Münevver Arinc in ihrem blauen Mantel und dem blau-weiß gemusterten Kopftuch nicht aufgefallen. Doch im VIP-Salon des Flughafens hätte ihr Erscheinen fast eine Staatskrise ausgelöst. Als Ehefrau des neuen Parlamentspräsidenten Bülent Arinc hatte sie zwar eine protokollarische Rolle bei der Verabschiedung des Staatspräsidenten zu einer Auslandsreise zu spielen; immerhin ist ihr Mann nun die Nummer zwei im Staate und vertritt den Präsidenten während seiner Abwesenheit. Dass die Türkei dadurch nun zumindest für ein paar Tage eine First Lady im Kopftuch hat, sandte aber Schockwellen durch die türkische Gesellschaft und führte allen vor Augen: Mit der Regierungsübernahme der religiös-konservativen AKP tritt der seit 20 Jahren erbittert geführte Streit um das Kopftuch in eine neue Phase. Da trifft es sich gut, dass die Auseinandersetzung auch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof erreichte.

Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer bewahrte die Ruhe und schüttelte Münevver Arinc artig die Hand; auch ein anwesender General der in diesen Fragen äußerst empfindlichen Armee tat dies. Ein sofortiger Eklat wurde damit vermieden. Aber die Fernsehbilder der Zeremonie elektrisierten das Land. Die Kopftuch-Frage entzweit die türkische Gesellschaft wie kein anderes Thema.

Das war nicht immer so. Staatsgründer Atatürk sah wohlweislich von einem Verbot des Kopftuchs ab, als er die Republik in den 20er Jahren auf Westkurs steuerte und dabei den türkischen Männern ihren Fez verbot. Erst die Militärregierung, die mit dem Putsch von 1980 an die Macht kam, erließ 1981 das Verbot von Kopftüchern in Schulen, öffentlichen Ämtern und wenig später auch Universitäten. Seither wogt der Streit hin und her.

Kopftuchtragende Studienbewerberinnen pochen auf ihre von der Verfassung verbrieften Rechte auf Religionsfreiheit und Bildung sowie auf das Diskriminierungsverbot. Der Staat argumentiert damit, das Kopftuch sei „das Symbol einer gegen die Prinzipien der Republik und gegen die Befreiung der Frau gerichteten Weltanschauung".

Ein Problem an der gesellschaftlichen Debatte ist, dass sie unter Ausschluss der Betroffenen geführt wird. Rund 70 Prozent aller türkischen Frauen tragen das Kopftuch, mit dem nur die wenigsten von ihnen ein politisches Bekenntnis verbinden. Für die große Mehrheit der Anatolierinnen gehört es einfach zu Anstand und Sitte, das Haar zu verhüllen. Von der Ausübung öffentlicher Ämter und von der höheren Bildung sind diese Frauen ausgeschlossen, was unter anderem dazu geführt hat, dass der Frauenanteil im türkischen Parlament zu den niedrigsten der Welt zählt.

Einen Ausweg aus dem erbitterten Ringen könnte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof weisen, der in dieser Woche die Verhandlung über einen Grundsatzfall aufnahm. Zwei türkische Studentinnen, die wegen ihrer Kopftücher aus der Hochschule geworfen wurden, klagen darin gegen die Türkei wegen Verletzung ihrer von der Europäischen Menschenrechtskonvention verbrieften Freiheiten.

Mit besonderem Interesse wird die Entscheidung von der Ehefrau des türkischen Ministerpräsidenten Abdullah Gül erwartet: Die dreifache Mutter Hayrünnisa Gül hatte vor fünf Jahren ihren Schulabschluss in Abendkursen nachgeholt und auch die Aufnahmeprüfung an die Universität bestanden; studieren durfte sie wegen ihres Kopftuches aber bis heute nicht.

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