zum Hauptinhalt

Politik: Stasi-Debatte: Meine Akte, Deine Akte, unsere Akte

Nach einer Stunde brachen sich die Emotionen Bahn. "Wo leben wir hier?

Nach einer Stunde brachen sich die Emotionen Bahn. "Wo leben wir hier?", brüllte Roland Jahn plötzlich ins Mikrofon. Der ostdeutsche Widerständler hatte am Dienstagabend geduldig zugehört, wie Politiker und Bürgerrechtler über den Umgang mit Stasi-Akten stritten. "Das ist Diktatur", rief er verzweifelt, "eine Behörde maßt sich an, über meine Akte zu bestimmen." Meine Akte, Deine Akte, unsere Akte - wem gehört das Material, dass sich in der Gauck-Behörde stapelt? Eine Podiumsrunde des Berliner Domaschk-Archivs und der "Frankfurter Rundschau" ging dieser Frage nach. Die Antworten waren so verschieden wie die Interessen der Akteure.

Im Zentrum stand Akten-Hüterin Marianne Birthler. Sie will ihren Streit mit Innenminister Otto Schily (SPD) beilegen, der die Veröffentlichung von Stasi-Materialen über Prominente für rechtswidrig hält. Birthler entschärfte den Konflikt, indem sie die Akten-Herausgabe an Journalisten und Historiker einschränkte. Kein Wunder, dass sie nun entspannt auf dem Podium saß, mit ihrem Kugelschreiber spielte und die neuen Behörden-Richtlinien lobte: "Wir haben die Rechtssicherheit der Opfer erhöht." Somit stünden die Papiere, "die uns allen gehören", künftigen Generationen offen.

"Die Akten gehören in erster Linie den Opfern", widersprach Reinhard Schult, der 1989/90 maßgeblich an der Stasi-Auflösung und der Sicherung der Akten beteiligt war. Aus seiner Sicht gibt die Behörde viel zu wenig Dossiers heraus. Die Reduzierung der Aufarbeitung auf DDR-Geschichte sei jedenfalls nicht im Sinne der Stasi-Stürmer. "Der Westen gehört dazu", rief Schult und erntete den Beifall der 100 Zuhörer.

Die Politiker sahen das anders. Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher des SPD, betonte den Opferschutz. "Wo kommen wir hin, wenn die Akten dem Volk gehören?", erregte er sich. Illegale Stasi-Protokolle dürften nicht öffentlich sein. Auch der Grüne Cem Özdemir plädierte für die Rechte Betroffener, "ohne die Aufarbeitung zu beenden". Die Presse trage dabei Verantwortung. Özdemir kündigte ein Treffen der Grünen-Fraktion mit dem Presserat an. Dieser soll Journalisten empfehlen, Prominente über Recherchen zu informieren.

Andreas Schmidt geht das nicht weit genug. Der CDU-Obmann im Spenden-Untersuchungsausschuss will der Behörde keine freie Hand über die Akten gewähren. "Betroffene müssen die letzte Entscheidung haben", sagte er im Hinblick auf Helmut Kohl, der vor dem Berliner Verwaltungsgericht gegen die Herausgabe seiner Akten klagt. Für die Feststellung, Abhöropfer hätten "ein Interesse an Aufklärung", erntete Schmidt jedoch Gelächter beim Publikum. "Gilt das auch für Hilde Benjamin?", fragte Birthler in Anspielung auf die Durchleuchtung von Biografien prominenter SED-Politiker.

Je länger die Debatte dauerte, je mehr Facetten wurden deutlich. Jahn erkannte einen Streit zwischen Opfern und Rechercheuren, Schult einen Ost-West-Konflikt. Die Politiker sprachen lieber von "fruchtbaren Debatten". Eines scheint klar: Die Integration des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, das die DDR-Opposition einst erzwang, wird weiterhin für Zündstoff sorgen. "Das Gesetz ist ein Fremdkörper", meinte Birthler, "es erklärt sich nicht aus bundesdeutscher Rechtstradition." Wird dieser Fremdkörper irgendwann vom Rechtsstaat abgestoßen? Auf dem Podium wollte das keiner voraussagen. Nur Schilys Sprecher Rainer Lingenthal ließ am Mittwoch nachträglich verlauten, bei der Auslegung des Gesetzes gebe es "keinen Beurteilungsspielraum". Der Innenminister will also hart bleiben. Da hilft wohl nur noch der Satz, mit dem Wiefelspütz das Podium verließ: "Am Ende entscheidet das Verfassungsgericht - wie immer."

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false