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Politik: Stasi-Unterlagen: Die Macht der Akten

Marianne Birthler sitzt heute in ihrem Büro in Berlin-Mitte und trinkt Tee. Mit ein paar Akten will sich die Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen am Freitag einen "normalen Arbeitstag machen", wie sie sagt.

Marianne Birthler sitzt heute in ihrem Büro in Berlin-Mitte und trinkt Tee. Mit ein paar Akten will sich die Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen am Freitag einen "normalen Arbeitstag machen", wie sie sagt. Das dürfte schwer fallen. Denn ein paar Kilometer entfernt, in Berlin-Charlottenburg, wird über die Zukunft ihrer Behörde entschieden. Das Bundesverwaltungsgericht befindet darüber, ob Birthler die Stasi-Akte von Altkanzler Helmut Kohl veröffentlichen darf oder nicht. Wenn ja, kann Birthler ihre Arbeit fortsetzen wie bisher. Wenn nein, steht die gesamte Behörde auf dem Prüfstand. Dann wäre der bisherige Umgang mit den Akten rechtswidrig. Zehn Jahre Aufarbeitung der DDR-Geschichte stünden in Frage.

Helmut Kohl wird auch in Berlin sein. Ihm geht es nicht um DDR-Geschichte. Er klagt gegen die Weitergabe seiner Akte an Historiker und Journalisten, weil er seine Persönlichkeitsrechte gefährdet sieht. "Helmut Kohl wurde illegal bespitzelt", bekräftigt sein Anwalt Stephan Holthoff-Pförtner. "Das Material gehört nicht an die Öffentlichkeit." Das Material, das sind mehr als 5000 Seiten aus Stasi-Archiven - Berichte von Funkaufklärern, Spionen und Reisebegleitern. Öffentlich zugänglich wären 2000 Seiten. "Privates und Informationen über Dritte sind tabu", sagt Birthlers Anwalt Carl-Stephan Schweer, "es geht auch nicht um Parteispenden, sondern nur um Stasi-Westarbeit." Die Aufarbeitung dieser Arbeit sei im öffentlichen Interesse, das stehe im Stasi-Unterlagen-Gesetz. Die Berliner Verwaltungsrichter sahen das anders. Im Juli 2000 entschieden sie: Opferschutz hat Vorrang, Kohl sei Opfer der Stasi - also bleibe seine Akte zu. Auch Opferschutz ist im Gesetz geregelt. Akten über Prominente dürfen nur herausgegeben werden, "soweit sie nicht Betroffene oder Dritte sind". Um diesen Halbsatz tobt der juristische Streit (siehe Kasten links). Und der politische.

Was hat der Gesetzgeber mit dem Passus gemeint? Und was ist wichtiger - offene Akten oder Schutz der Persönlichkeitsrechte? Darüber streiten die Parteien. Die Grünen stehen geschlossen auf Birthlers Seite. "Wir müssen die Aufarbeitung stärken", sagt Cem Özdemir. Er regt an, den "missverständlichen Halbsatz" zu streichen. Der Persönlichkeitsschutz sei durch Schwärzungen privater Informationen genügend gewährleistet. Der grüne Fraktionskollege Werner Schulz pflichtet ihm bei - aus anderem Grund: "Wir können nicht die Aktendeckel schließen, nur weil es um Westpolitiker geht."

Dass mit dem Akten-Streit auch eine Ost-West-Debatte verbunden ist, zeigt die Stimmung in der SPD. Die ostdeutschen Sozialdemokraten, inklusive Staatsminister Rolf Schwanitz, wollen ein verändertes Gesetz. Ihnen entgegen steht eine große Gruppe, die den Opferschutz betont. Der innenpolitische Sprecher der SPD, Dieter Wiefelspütz, meint etwa: "Die Aufarbeitung hängt nicht allein davon ab, ob die Kohl-Akte offen ist." Wiefelspütz hängt eher der Idee an, sensible Aktenteile "für gewisse Zeit zu schließen". Noch schärfer trat in der Vergangenheit Bundesinnenminister Otto Schily auf. In einem heftigen persönlichen Streit mit Birthler forderte er den Stopp der Herausgabe von Prominenten-Akten. Schily wollte Birthler gar per Kabinettsbeschlus dazu zwingen - erst Bundeskanzler Schröder konnte schlichten.

Nach dem Urteil vom Freitag wird politisch entschieden. Der Bundestag plant für den 25. April eine Anhörung, um die Argumente abzuwägen. Auch die Argumente der CDU, die mehrheitlich auf Kohls Seite steht. "Das Gesetz hat nicht den Sinn, Geschädigte der Stasi noch einmal bloßzustellen", sagt Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach. Die FDP vertritt eine ähnliche Auffassung. Bürgerrechtler und Wisssenschaftler laufen indes Sturm für ein neues Gesetz. "Wenn Kohl gewinnt, nützt das auch SED-Funktionären", sagt DDR-Forscher Karl-Wilhelm Fricke. In der Tat: Wenn der Altkanzler seine Akte sperren kann, könnten das auch SED-Bürgermeister und Richter tun. Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley - die anfangs noch auf Kohls Seite stand - sagt deshalb: "Wir brauchen eine neue Definition von Opfern und Tätern." Viel Arbeit für den Bundestag.

Eine Gesetzesänderung vor der Wahl ist unwahrscheinlich. Selbst Bürgerrechtler, die auf Birthlers Seite stehen, raten zum Abwarten. "Für eine angemessene Novellierung sind zurzeit die Voraussetzungen nicht gegeben", argumentiert das "Forum zur Aufklärung und Erneuerung" in einem Gutachten, das dem Tagesspiegel vorliegt. Mitunterzeichner Wolfgang Ullmann meint: "Überstürzte Veränderungen bringen nichts."

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