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Politik: Stephen starb vor fünf Jahren - Spuren einer Krankheit

Das letzte gemeinsame Weihnachtsfest, so erinnert sich David Churchill, feierte seine Familie in "einem Nebel der Verzweiflung". Sein Sohn Stephen dämmerte nur noch vor sich hin und packte nicht einmal mehr die Geschenke aus.

Das letzte gemeinsame Weihnachtsfest, so erinnert sich David Churchill, feierte seine Familie in "einem Nebel der Verzweiflung". Sein Sohn Stephen dämmerte nur noch vor sich hin und packte nicht einmal mehr die Geschenke aus. Die Eltern und die Schwester mussten ihn wegen seines schwankenden Gangs stützen. "Es war kaum zu glauben, dass dieser junge Mann nur neun Monate zuvor Sportmaschinen geflogen war und bei Paraden seiner Kadettengruppe durch seine Marschleistungen imponiert hatte", sagt sein Vater, wenn er an die Familienfeier vor gut fünf Jahren zurückdenkt. Sohn Stephen starb am 21. Mai 1995 kurz nach seinem 19. Geburtstag.

Der sportliche und hoch begabte junge Mann war innerhalb eines Jahres zu einem geistigen und körperlichen Wrack geworden. Leichte Asthmaanfälle und das unerklärliche Absinken der Schulleistungen waren die ersten Alarmzeichen. Die Hausärztin glaubte zunächst an Examensstress.

"Am schlimmsten war für uns dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Wir mussten zusehen, wie unser Sohn langsam durch die Krankheit verfiel. Es war ein Alptraum, der uns nicht loslässt", sagt David Churchill heute. Seit dem Tod ihres Sohnes, der das erste Opfer einer neuen Form der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK) wurde, verfolgen die Eltern jede Nachricht, die mit der Rinderkrankheit BSE in Zusammenhang steht. Denn BSE gilt vielen Wissenschaftlern als Auslöser des Leidens. Der Brandmeister aus der südwestenglischen Stadt Devizes und seine Frau Dorothy wissen auch, dass am Freitag der Bundesrat darüber entscheidet, ob britisches Rindfleisch wieder uneingeschränkt in deutschen Metzgereien verkauft werden darf.

Die Aussage der Eltern hatte großes Gewicht bei der öffentlichen Anhörung zur BSE-Krise, die Lordrichter Phillips im Auftrag der neuen Labour-Regierung durchführte. "Seit seinem Tod wurden wir von vielen Leuten als Spinner und Unruhestifter angesehen, nur weil wir wissen wollten, warum unser Sohn starb", sagt Dorothy Churchill. "Ich hoffe nun, dass uns der Report die Antwort geben wird. Ich habe ein Recht darauf, denn ich bin Stephens Mutter."

Für die Eltern ist die offizielle Untersuchung eine späte Genugtuung. Nachdem die ersten Krankheitssymptome aufgetreten waren, verschlimmerte sich Stephens Zustand schnell. Er krachte mit dem Auto seiner Mutter gegen einen Lastwagen und konnte dafür keine Erklärung abgeben. Sein Gewicht nahm rapide ab. Der einst so fröhliche junge Mann wirkte ängstlich, mürrisch und verwirrt. Selbst harmlose Zeichentrickfilme im Fernsehen versetzten ihn in panische Angst. Sein Kurzzeitgedächtnis verließ ihn, und er begann zu fantasieren, wenn er nicht in einen immer länger werdenden Schlafzustand verfiel.

Er schmiss seinen Samstagsjob hin und verließ die Kadetten der Luftwaffe, obwohl ihm hier die Erfüllung seines Ausbildungswunsches winkte - er wollte Offizier werden. Als er sich dann beim Direktor seiner Eliteschule in Bath abmeldete, fühlte auch die Hausärztin, dass ein ernstes Problem vorlag. Stephen wurde an Psychiater verwiesen, die "schwere Depressionen mit bizarren Symptomen" diagnostizierten. Medikamente halfen nicht, man empfahl die Einweisung in eine neurologische Klinik.

Die Familie zögerte diesen Schritt einige Wochen hinaus, um mit ihm noch zu Hause Weihnachten feiern zu können, auf das sich ihr Sohn immer so gefreut hatte. Im Februar 1995 wurde Stephen in die psychiatrische Abteilung des Kreiskrankenhauses eingeliefert. Nach zwei Wochen eröffnete der Chefarzt den Eltern, dass der Patient an einer unerklärlichen neurologischen Krankheit leide. Nichts könne mehr getan werden, um ihn zu retten. Die Eltern erreichten die Verlegung in eine Spezialklinik nach London, wo endlich alle möglichen Tests zur Diagnose gemacht wurden. Doch auch dort konnte die Krankheit nicht eindeutig festgestellt werden. Auf einem Bericht entdeckten die Eltern aber die Anmerkung "CJK?". Die letzten Wochen seines kurzen Lebens verbrachte Stephen in einem Altersheim, da es in Großbritannien keine Pflegeeinrichtungen für seinen "Fall" gab.

"Vom Tage seines Todes an begann unser Kampf mit dem Ziel, dass als Ursache CJK auf seinem Totenschein vermerkt wird. Darüber hinaus wollten wir unsere Ansicht der Öffentlichkeit mitteilen, dass hier ein gesunder junger Mann unnötig sterben musste", umreißt David Churchill die lange und schwere Kampagne gegen die Verschleierungen und Beschwichtigungen der konservativen Regierung. Die Eltern vermuteten einen Zusammenhang mit BSE, aber ihr konservativer Parlamentsabgeordneter lehnte eine Untersuchung auch dann noch ab, als ähnliche Todesfälle folgten. Die nationale Überwachungsbehörde für CJK setzte sich erst drei Monate nach Stephens Tod mit den Eltern in Verbindung, weil sie bis dahin offiziell nicht von dem Fall erfahren hatte.

Mit anderen Eltern gründeten die Churchills eine Selbsthilfegruppe und alarmierten Presse und Fernsehen. Das Esszimmer in ihrem Einfamilienhaus wurde zum Büro der "Stiftung für die menschliche Variante von BSE". An manchen Wochen nahm Dorothy über 400 Anrufe besorgter Briten entgegen. David war überzeugt, dass die Dunkelziffer bei den Todesopfern weitaus höher lag als die offiziell anerkannten Fälle: "Die meisten der Angehörigen, die sich bei uns meldeten, teilten meine Ansicht. Und das hat nichts mit dem Schmerz über den Verlust eines Familienmitglieds zu tun." Ihrer Unbeirrbarkeit gegenüber starken Anfeindungen der landwirtschaftlichen Lobby und konservativer Politiker ist es zu verdanken, dass die britischen Verbraucher Druck auf die Regierung ausübten. Erst im März 1996 bequemte sich der damalige Gesundheitsminister Stephen Dorrell zu der Erklärung, dass zehn Fälle der neuen Variante von CJK aufgetreten seien. Zur Verlegenheit der Regierung äußerte dann die BSE-Kommission die Ansicht, dass ein Zusammenhang mit dem "Rinderwahnsinn" nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden könne.

Die Briten, deren Landwirtschaftsministerium jetzt vom "sichersten Rindfleisch der Welt" spricht, müssen noch bis zum September warten, um sich über die Qualität ihres "Beefs" ein Urteil zu bilden. Dann wird Lordrichter Phillips der Regierung das Ergebnis der zweijährigen Untersuchung vorlegen. Allein die Protokolle der Anhörung von 560 Zeugen umfassten 18 dicke Bände. "Niemand kann sagen, ob die bisherigen Opfer nicht die Spitze eines Eisberges sind", gab Lord Phillips im Dezember zum Abschluss der Anhörung zu bedenken.

Als er die ersten Zeugen vernahm, waren 24 Menschen an der atypischen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit verstorben. Inzwischen sind es 52. Das letzte Opfer, ein 15-jähriges Mädchen, starb im Januar. Eine 24-jährige Mutter und ihre drei Monate alte Tochter ringen in einer Londoner Spezialklinik mit dem Tod. Die Ärzte vermuten CJK.

Stephens Schwester Helen unterbrach während der Leidenszeit des Bruders ihr Studium, um ihm beizustehen. Sie sieht in dem nach der Wahl eingesetzten Untersuchungsausschuss eine Rechtfertigung dieser Anstrengungen: "Ich mache die konservative Regierung dafür verantwortlich, dass sie durch Entscheidungsmangel und Fehleinschätzung das BSE-Problem nicht schon angegangen ist, als es in den 80er Jahren zum ersten Mal bekannt wurde", sagt sie. Helen glaubt, die Regierung habe die Fleischindustrie für wichtiger gehalten als Menschenleben. Sie versteht nicht, warum nach der Diagnose von BSE bei Rindern nicht sofort alles getan wurde, damit dieses Fleisch nicht in die Nahrungskette kam: "Es scheint, dass finanzielle Rücksichten die Sorge um die menschliche Gesundheit überwogen."

Nur wenige Kilometer vom Haus der Churchills entfernt grast eine Herde von schwarzweißen Friesen in dem grünen Tal unter der Torneys-Court-Farm - eine englische Bilderbuchlandschaft. Vor vier Jahren kam das Unheil: Ekelhafte schwarze Rauchschwaden verpesteten die Luft, als die Bauern ihre verendeten und notgeschlachteten Rinder in offenen Gruben verbrannten, weil die Abdeckereien mit der Flut der Kadaver nicht mehr fertig wurden. Mehr als vier Millionen Stück Vieh wurden als eine Voraussetzung dafür vernichtet, dass die EU den Exportbann britischen Rindfleisches letzten August aufgehoben hat. Nur Frankreich und einige deutsche Bundesländer widersetzen sich noch dieser Entscheidung.

"Wir selber hatten unglaubliches Glück und keinen einzigen Fall von BSE", sagt Robert Shackell, der mit seinem Bruder Richard die 200 Hektar große Torneys-Court-Farm bewirtschaftet. Richard rätselt, warum in der 250 Stück starken Herde nicht wie bei vielen Nachbarn wahnsinnige Kühe herumtorkelten. "Wir haben alle das gleiche Zeug verfüttert - daran allein kann es wohl nicht gelegen haben." Obwohl ihre Herden BSE-frei blieben, mussten die Shackells an die 100 Tiere dem Abdecker übergeben. Die Kühe wurden vor dem März 1996 geboren, als die Regierung einen möglichen Zusammenhang von BSE und der menschlichen Folgekrankheit CJK zugab und das Füttern mit Tiermehl verbot.

Auch wenn die Londoner Regierung britisches Rindfleisch nun als "das sicherste der Welt" anpreist, fehlt in der eigenen Bevölkerung noch das volle Vertrauen. Auch Stephens Mutter bleibt fünf Jahre nach seinem Tod skeptisch. "Wir müssen auf das Ergebnis der Untersuchung warten", sagt Dorothy Churchill, "so viele Fragen sind noch offen."

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