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Diane Pretty kämpfte in Straßburg für ihr Recht auf Suizid - und verlor.

© dpa

Sterbehilfeprozess: Tod auf Rezept

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt seit Dienstag darüber, ob ein Staat schwerstkranken Lebensmüden beim Sterben helfen muss.

Berlin/Straßburg - Das Drama beginnt 2002, Bettina Koch, 51 Jahre alt, will die Einkäufe vor ihrer Haustür aus dem Auto laden. Sie stürzt, prallt an einen Blumenkübel, bricht sich so unglücklich den Nacken, dass sie der Vorfall das Leben kosten wird. Weil sie es selbst so will.

Der ungewöhnliche Fall beschäftigt seit Dienstag den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, verklagt wurde die Bundesrepublik. Das Gericht soll danach fragen, was Lebensmüden und ihren Angehörigen zuzumuten ist. Ob ein Staat in der Pflicht ist, ihnen zu helfen. Ein Urteil wird in einigen Monaten erwartet.

Für Bettina Koch käme es in jedem Fall zu spät. Nach ihrem Sturz diagnostizieren die Ärzte eine sensomotorische Querschnittslähmung vom Hals abwärts. Sie kann kein Glied mehr rühren, muss künstlich beatmet und rund um die Uhr beaufsichtigt werden. Damit nicht genug. Sie leidet unter Krämpfen, klagt trotz ihrer Bewegungsunfähigkeit über starke Schmerzen. Trotzdem, die Ärzte bescheinigen ihr, sie habe in diesem Zustand noch viele Jahre zu leben.

So entschließt sich Bettina Koch zum Suizid und beantragt beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 15 Gramm Natrium-Pentobarbital. Das Medikament führt zur Bewusstlosigkeit und Atemlähmung. In geringen Dosen wurde die Substanz früher als Schlafmittel eingesetzt, heute werden damit Tiere eingeschläfert oder Epileptiker behandelt. Für viele Sterbehilfeorganisationen, die den „begleiteten Suizid“ propagieren, ist es das Mittel der Wahl.

Doch die Behörde lehnt ab, mit Verweis auf die Rechtslage. Betäubungsmittel dürften nur herausgegeben werden, um Patienten medizinisch zu versorgen, für lebenserhaltende oder lebensverlängernde Maßnahmen, nicht jedoch für „lebensvernichtende Anwendungen“. Den weiteren Rechtsstreit wartet die Frau nicht ab. Sie wendet sich an die Sterbehelfer von Dignitas und macht sich 2005 mit Ehemann Ulrich und der Tochter auf die Reise in die Schweiz, wo Natrium-Pentobarbital Schwerstkranken auf deren Wunsch verschrieben werden darf. Dort nimmt sie sich 2005 das Leben. Ulrich Koch hatte mit seiner Frau verabredet, den Streit weiterzuführen. Nach erfolgloser Anrufung des Bundesverfassungsgerichts klagte er in Straßburg gegen Deutschland, weil die Verweigerung des Arzneimittelinstituts und der Zwang, zum Sterben ins Ausland zu müssen, gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Recht auf Privatleben verstoße.

Der Rechtsvertreter der Bundesregierung, Christian Walter, verteidigte am Dienstag die Entscheidung der Behörde. Niemand bestreite, dass es sich um einen ganz besonderen Härtefall gehandelt habe, sagte der Jurist. Die schwerbehinderte Frau habe ihr Leben beenden wollen. Dies sei in Deutschland nicht strafbar, ebenso wenig wie Beihilfe zum Selbstmord. Doch daraus könne keine „Verpflichtung“ zur Suizidhilfe für den deutschen Staat abgeleitet werden.

Der EGMR hatte sich bereits 2002 mit der Problematik befasst. Damals lehnten die Richter die Beschwerde der 43 Jahre alten todkranken Diane Pretty ab, die in Großbritannien vergeblich Sterbehilfe beantragt hatte. Sie hatte sich im Rollstuhl auf den Weg nach Straßburg gemacht und vorgetragen, das Recht auf Schutz des Lebens schließe im Umkehrschluss ein Recht auf würdiges Sterben ein. Dies verneinte der Gerichtshof. Der Staat habe die Pflicht, Leben zu schützen.

Eine Vorentscheidung ist das nicht, aber die Chancen des Klägers sind nicht groß, zumal seine Frau nicht mehr lebt. Ulrich Kochs Anwalt Detlef Koch fordert gleichwohl einen „längst fälligen Dammbruch“. Wenn „erheblicher Leidensdruck“ bestehe und Besserung nicht in Sicht sei, müssten tödliche Medikamente abgegeben werden dürfen. mit AFP

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