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Alle Steuern werden geschätzt.

© dpa

Steuerschätzung: Das große Haushaltsorakel

Heute wird die neueste Steuerschätzung veröffentlicht. Bund, Länder und Kommunen dürfen mit höheren Einnahmen rechnen. Aber wie wird geschätzt - und warum ist das wichtig?

Es gibt große Machtzentralen in Berlin, kleine Schaltzentralen, und dann ist da noch das Büro von Hartmut Hüsges im Bundesfinanzministerium (BMF). Der Ministerialrat leitet das Referat I A 6: Steuerschätzung. Er ist auch Vorsitzender des Arbeitskreises Steuerschätzungen, einer nicht ganz unbedeutenden Runde. Immer im Mai und November, seit fast 60 Jahren, tagt der Kreis – die Ergebnisse sind Richtschnur für die Haushaltspolitik in Bund, Ländern und Kommunen in den folgenden Monaten und für die Planung der nächsten Jahre. Muss man sparen, kann man mehr ausgeben, welche Entwicklungen hat man zu gewärtigen, bei der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer, der Gewerbesteuer? Bis hinab zur Sektsteuer reichen die Prognosen.

Wie ein Konklave

Dem Arbeitskreis gehört Hüsges seit 25 Jahren an, erst für das Bundeswirtschaftsministerium, seit einigen Jahren vertritt der promovierte Statistiker („Regressionsschätzung skalarwertiger Präferenzfunktionen für ökonometrische Entscheidungsmodelle“) das BMF. Die Runde beschicken auch die Finanzministerien der Länder, die Bundesbank, der Sachverständigenrat, die Kommunalverbände und fünf Wirtschaftsforschungsinstitute. Im Hintergrund rechnet das Fraunhofer-Institut und liefert Simulationsmodelle. Der Arbeitskreis ist das Orakel des Steuerstaates. Delphi ist in diesem Frühjahr in Saarbrücken. Dort traf sich das Gremium am Dienstag. Drei Tage haben die 30 Männer und Frauen hinter verschlossener Tür gerechnet, abgewogen und gestritten. Es hat etwas von einem Konklave. Nichts dringt nach draußen. Heute am späteren Nachmittag wird Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) den Konsens verkünden. Er ist die Basis aller Haushaltsplanungen in Bund und Ländern für dieses Jahr und die weiteren Jahre.

Wachstumsprognose ist die Basis

Die entscheidende Zahl ist seit zwei Wochen bekannt: die Wachstumsprognose der Bundesregierung für das laufende Jahr. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat sie von 1,5 auf 1,8 Prozent angehoben. Entsprechend ist mit höheren Steuereinnahmen zu rechnen. „Diese Eckwerte sind die Basis“, sagt Hüsges, der Kreis ist darauf per Geschäftsordnung verpflichtet, alle Einzelschätzungen müssen von dieser gesamtwirtschaftlichen Bewertung ausgehen. Einzelprognosen geben acht Teilnehmer ab: das BMF, die Forschungsinstitute, die Bundesbank, der Sachverständigenrat. Sie weichen trotz der Vorgabe voneinander ab, zum Teil sehr deutlich, jeder rechnet eben anders. Nur der Trend ist klar: Geht die Konjunktur runter, sinken die Einnahmen, geht sie rauf, kommt mehr herein. Natürlich spielen politische Erwartungen eine gewisse Rolle, doch Direktiven gibt es nicht, wird betont. Sie würden auch verpuffen, der Kreis ist dann doch zu groß. Die Mitglieder, erfahrene Statistiker und Finanzer, wissen die Unabhängigkeit, welche die Runde ermöglicht, zu schätzen. Hüsges lobt das „konsensuale Vorgehen“, mit dem extreme Ergebnisse vermieden werden. Kein Finanzminister habe es bisher geschafft, die Schätzer in seinem Sinn zu beeinflussen, heißt es von anderer Seite aus dem Kreis.

Schätzer liegen nicht immer richtig

Natürlich liegen die Schätzer nicht immer richtig. Für 2001 etwa musste, als die Wirtschaft einzubrechen begann, die Schätzung vom Mai (480 Milliarden Euro) drastisch auf 459 Milliarden im November zurückgenommen werden, das tatsächliche Steueraufkommen lag dann nur bei 446 Milliarden. Dagegen waren die November-Schätzungen für 2004, 2007 oder 2009 nahezu Punktlandungen. „Wir haben jedoch unterschätzt, wie schnell wir 2010 wieder aus der Krise herausgekommen sind“, sagt Hüsges. Im November hatten die Steuerschätzer nach einer eher pessimistischen Vorhersage von 1,3 Prozent Wirtschaftswachstum die Erwartungen für 2015 von 666,6 Milliarden Euro (das war die Mai-Schätzung von 2014)  auf 660,2 Milliarden gesenkt. Für die Folgejahre wurden die Planzahlen entsprechend gesenkt. Nun geht es wieder in die andere Richtung, was sich schon beim Haushaltsabschluss für 2014 gezeigt hatte, als überraschend auch der Bund einen leichten Überschuss vermeldet hatte. Nach einem Bericht des “Handelsblatts“ geht das Finanzministerium in seiner Berechnungsgrundlage für den Arbeitskreis in diesem Jahr von sieben bis acht Milliarden Euro Mehreinnahmen gegenüber der November-Schätzung aus. In einem ähnlichen Ausmaß geht es dann auch in den Jahren 2016 bis 2019 nach oben. Das Ziel der Schwarzen Null ist damit weiter im Visier.

Angesichts der guten Zahlen werden von Haushaltspolitikern die Erwartungen schon gedämpft. Der Chef-Haushälter der Unions-Fraktion, Eckhardt Rehberg, sieht keine großen zusätzlichen Spielräume. „Für dieses Jahr hat der Bund mit dem Nachtragshaushalt bereits rund drei Milliarden Euro an Steuermehreinnahmen gegenüber der November-Steuerschätzung eingeplant“, sagte Rehberg der Deutschen Presse-Agentur. Zudem müsse das Ergebnis des Flüchtlingsgipfels mit finanziellen Folgen für den Bund abgewartet werden. Die Koalition habe auch vereinbart, dass sie finanzielle Spielräume für zusätzliche Investitionen nutzen wolle. Rehberg: „Möglichkeiten für zusätzliche Entlastungen der Steuerzahler sehe ichderzeit noch nicht.“

Stets nach dem gleichen Schema

Das Steuer-Orakel läuft stets nach dem gleichen Schema ab. Zuerst werden die Wachstumsprognosen erläutert, dann die Schätzvorschläge durchgegangen, die für die November-Runde erst in den drei Wochen davor erarbeitet wurden. „Das ist dann eine etwas hektische Zeit“, sagt Hüsges, denn zumindest für die großen Steuerarten können die Schätzer ihre Arbeit ja erst mit der Veröffentlichung der Wachstumsprojektion beginnen. Jede einzelne Steuerart wird durchgekaut. Eine wichtige Frage dabei: Welches Verhalten löst Änderungen im Steuerrecht aus? Wie reagieren Konsumenten auf eine angehobene Mehrwertsteuer? Zahlen die Unternehmen weniger Steuern, weil sich ein Paragraf im Körperschaftsteuergesetz geändert hat und ein Anreiz entstand, Geld ins Ausland zu bringen? Wie wirkt sich die Zunahme von Selbstanzeigen von Steuersündern aus? Manchmal dauern die Detaildebatten stundenlang. Man hat eben seine Erfahrungen. Mitte der 90er Jahre etwa sah der Kreis nicht ab, wie stark westdeutsche Vermögende die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost in Anspruch nahmen. Die Einnahmeausfälle waren deutlich höher als erwartet.

Länder bringen Praxiswissen ein

Die Länderleute bringen das Wissen der Steuerverwaltungen ein – „eine ganz wichtige Sache“, sagt Hüsges. Sie kennen die aktuelle Kassenentwicklung am besten, wissen Bescheid über die Veranlagungstätigkeit der Finanzämter, können am besten einschätzen, ob ein schlechter Monat bei der Körperschaftsteuer nur ein Momentanereignis war oder mehr. Selbst Einzelfälle kommen dann auf den Tisch. Etwa wenn ein Unternehmen zu einer saftigen Steuernachzahlung verdonnert wurde, 500 Millionen Euro, bisher nicht publik. Dann hebt schon mal ein Ländervertreter den Finger und weist – anonym natürlich – darauf hin, dass da bald eine halbe Milliarde Euro in die Staatskasse fließen wird. „Bei gewinnabhängigen Steuern ist die Unsicherheit immer größer“, weiß Hüsges. Manchmal gelte auch das „Prinzip Gefühl“, sagt er. Etwa bei der Energiesteuer. Wechseln mehr Autofahrer vom Benziner auf einen Diesel? Sparen sie generell mehr? Der Ölpreis spielt hier eine Rolle, aber welchen Wert legt man an? Und was macht der Dollar? Im Schnitt nimmt der Kreis hier die Daten der vergangenen vier bis sechs Wochen. Bei manchen Steuern orientieren sich die Schätzer an langen Zeitreihen und versuchen eine „plausible Fortschreibung“, wie Hüsges es nennt. Generell gilt: Man ist vorsichtig. 

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