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Politik: Stimme der Opfer

Die russische Journalistin und Kreml-Kritikerin Anna Politkowskaja wurde in Moskau erschossen

Berlin - Der Krieg hat Anna Politkowskaja nie losgelassen. Monat für Monat reiste die russische Journalistin nach dem Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges 1999 in die Kaukasus-Republik. Was sie von vielen anderen Kriegsberichterstattern unterschied, war ihr Blickwinkel: Kriegshelden oder militärische Strategien interessierten sie nie. Ihr Augenmerk galt den Opfern des Konflikts. Sie gab denen eine Stimme, die im heutigen Russland kaum Gehör finden: den tschetschenischen Zivilisten, die unter dem Krieg und seinen Folgen leiden. Anna Politkowskaja gehörte zu den bekanntesten Kritikern des Tschetschenien-Krieges und des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Am Samstag wurde die Journalistin in Moskau ermordet.

Die Reporterin der oppositionellen Zeitung „Nowaja Gaseta“ wurde in ihrem Wohnhaus erschossen. Moskaus Vize-Staatsanwalt Wjatscheslaw Rossinskij sagte, als Motiv für den Mord werde ihre „öffentliche Aufgabe“ als Journalistin vermutet. „Jemand wollte eine ehrliche und unabhängige Journalistin zum Schweigen bringen“, sagte der Leiter der Menschenrechtsorganisation Memorial, Oleg Orlow.

Die 48-jährige Mutter von zwei Kindern kannte die Gefahr, die mit ihrer Arbeit verbunden war. Immer wieder wurde sie persönlich bedroht. Während ihrer Recherchen in Tschetschenien wurde sie von russischen Truppen festgenommen und stundenlang verhört. In einem ihrer Bücher beschrieb die Journalistin später, wie Offiziere drohten, sie zu erschießen. Doch selbst danach hörte sie nicht auf, über den Konflikt zu schreiben. Leicht gefallen ist ihr diese Arbeit nie: „Grauen über das, was du aufschreiben musst, lähmt die Hand, die alles in einem Notizblock festhält...“, schrieb sie einmal.

In ihren Reportagen und in zwei Büchern griff sie das Vorgehen der russischen Regierung in Tschetschenien scharf an und dokumentierte Menschenrechtsverletzungen russischer Truppen und kremltreuer tschetschenischer Milizen. Damit machte sie sich viele Feinde: 2001 flüchtete sie für einige Monate nach Wien, weil sie Morddrohungen eines russischen Polizisten erhalten hatte. Sie hatte ihm Verbrechen an der tschetschenischen Zivilbevölkerung vorgeworfen.

In Gefahr begab sie sich auch während der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater „Nord-Ost“ 2002: Sie wagte sich in das von tschetschenischen Terroristen besetzte Gebäude, um zu vermitteln. Später versuchte sie immer wieder aufzuklären, was wirklich in dem Theater passiert war. Auch hier nahm sie die Perspektive der Opfer ein und schrieb über die Suche der Angehörigen nach der Wahrheit. Über das Geiseldrama in Beslan wollte die Journalistin ebenfalls berichten. Doch auf dem Flug in die Region zog sie sich unter rätselhaften Umständen eine Vergiftung zu, für die sie den Geheimdienst verantwortlich machte.

Anna Politkowskaja pflegte einen ungewöhnlich persönlichen Stil. Sie schrieb nie aus der Distanz der Beobachterin, sondern stand radikal auf der Seite der Menschen, die im Russland von heute zu Opfern geworden sind. Dabei konnte sie sonst im persönlichen Gespräch geradezu schroff wirken. Die schmale, grauhaarige Frau mit dem sorgenvollen Blick hatte es sich zur Aufgabe gemacht, über den Konflikt im Kaukasus aufzuklären – dahinter trat alles andere zurück. Für Konventionen im politischen Geschäft hatte sie wenig übrig. Einen Politiker aus Deutschland, mit dem sie verabredet war, ließ sie schon mal eine Weile warten.

Die Missstände, über die sie schrieb, lastete die Journalistin Putin persönlich an, den sie als typischen KGB-Mann sah: „Er rechnet ab mit denjenigen, die sich allzu aufmüpfig gebärden, erstickt Meinungsvielfalt und Freiheit im Keim“, schrieb sie in ihrem Buch „Putins Russland“. Mit Anna Politkowsjaka verliert Russland eine seiner bedeutendsten Journalistinnen.

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