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Rente mit 63: Das Herzensprojekt der SPD.

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Streit in der Koalition: Trotz aller Kritik: Union will bei Rente vertragstreu sein

Es ist eine Herzensangelegenheit der SPD, aber einige Konservative fürchten durch die Reform eine Frühverrentungswelle, andere CDU-Politiker sehen das gelassener - auch die Kanzlerin. Am Ende zählt wohl, was im Koalitionsvertrag steht.

Die abschlagsfreie Rente mit 63 löst Missmut in der großen Koalition aus. In der Unions-Bundestagsfraktion formiert sich seit Wochen Widerstand gegen das Rentenvorhaben, das die SPD in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt hatte. Vor allem Abgeordnete aus dem Wirtschaftsflügel drohen damit, dem Gesetzentwurf in der jetzigen Form nicht zuzustimmen. Auch Fraktionschef Volker Kauder verlangt Nachbesserungen.

Woran entzündet sich der Streit?

Mit den Rentenkompromissen der großen Koalition hatten Vertreter des Wirtschaftsflügels der Union von Anfang an Bauchschmerzen. Sie monieren, dass die Rente mit 63 zu einer neuen Frühverrentungswelle führen könnte. SPD und Union haben verabredet, dass langjährig Versicherte künftig schon mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen können. Voraussetzung sind 45 Beitragsjahre, wobei Zeiten der Arbeitslosigkeit berücksichtigt werden sollen. Vor allem über letzteres regen sich zahlreiche Unions-Politiker auf. In vielen Fällen könnte die Rente faktisch mit 61 Jahren beginnen, argumentieren sie. Das wäre der Fall, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer die längere Bezugsdauer für Ältere beim Arbeitslosengeld ausnutzten. Der Deal könnte so aussehen: Entlassung mit 61 gegen eine Abfindung, zwei Jahre Arbeitslosengeld, anschließend Rente mit 63.

Wie massiv ist der Widerstand?

Die Anführer des Parlamentarier-Aufstands kommen vor allem aus den Reihen der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung MIT. Deren Vorsitzender Carsten Linnemann gehörte zu den zwei CDU-Politikern, die im vergangenen Winter dem Koalitionsvertrag nicht zustimmten, auch wegen der Rentenbeschlüsse. Es seien aktuell sicher mehr als 64 Abgeordnete, die die Rente mit 63 "sehr kritisch" sähen, rechnet der Chef des Parlamentskreises Mittelstand, Christian von Stetten, vor. Bei 311 Abgeordneten in der Unionsfraktion wäre das mehr als jeder fünfte. Der Widerstand findet aber auch weiter oben Unterstützung – bei Fraktionschef Volker Kauder, aber auch bei der stellvertretenden CDU-Chefin Julia Klöckner. Die Landesvorsitzende aus Rheinland-Pfalz drohte am Montag sogar mit dem Scheitern des Vorhabens. Bis Ende Mai soll der Konflikt beigelegt sein, am 23. Mai wird das Rentenpaket im Bundestag verabschiedet. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat sich grundsätzlich offen gezeigt, Frühverrentung unattraktiver zu machen – etwa indem Abfindungen teurer gemacht werden. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hält trotz des anhaltenden Widerstandes an der Rente mit 63 fest. Die CDU-Vorsitzende will aber zugleich verhindern, dass mit der Regelung Missbrauch durch massenhafte Frühverrentung betrieben wird. CSU-Chef Horst Seehofer ermahnte die Union zu einer vernünftigen Debatte. Merkel ließ klarstellen, dass sie zu dem im Kabinett beschlossenen Gesetzentwurf von Nahles steht. Es sei dabei allgemeine Überzeugung, "dass es mit der Ausgestaltung dieser Rentenregelung keine Anreize zu einer neuen Frühverrentungswelle geben soll", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Die Kanzlerin erinnerte daran, dass der Gesetzentwurf im Kabinett mit der klaren Maßgabe verabschiedet worden sei, im Parlamentsverfahren Regelungen zur Vermeidung von Frühverrentungen zu finden und verwies auch darauf, dass die von der Union geforderte Verbesserung bei der Mütterrente damit verknüpft sei.

Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Steffen Kampeter (CDU), verteidigte die Finanzierung des Rentenpakets. Es gelte weiterhin, dass die Regierung die Beiträge für die Rentenversicherung bis 2020 nicht über 20 Prozent steigen lassen werde. "Wir nehmen nur einen Teil der Überschüsse und finanzieren damit ein Stück weit mehr Ausgleich innerhalb der Beitragszahler", sagte Kampeter im RBB Inforadio. Das Gleiche gelte für die Gesundheitssysteme.

Der Parlamentarische Geschäftsführer, Michael Grosse-Brömer (CDU), will sich trotz aller Kritik am Koalitionsvertrag orientieren. Was dort nicht geregelt sei, könne man ansprechen und verbessern. "Ansonsten sind wir als Union aber eben auch vertragstreu." Da jetzt über die Ausgestaltung der Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren verhandelt werde, sei "nicht die Zeit zu erklären, was auf keinen Fall geht". Vielmehr gehe es nun darum, den Gesetzentwurf zu verbessern, etwa um eine Welle von Frühverrentungen zu verhindern. "Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir mit dem Koalitionspartner Lösungen erarbeiten können." Arbeitslosenzeiten dürften nicht in exorbitant großer Höhe anrechenbar sein. Zudem sollten auf Initiative der Union Regelungen für einen flexibleren Eintritt in den Ruhestand vereinbart werden. "Das wäre ein gutes Entgegenkommen der Sozialdemokraten", sagte Grosse-Brömer.

Die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Gesine Lötzsch (Linke), sagte im Hinblick auf die beginnenden Haushaltsberatungen bei MDR Info, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) habe eine Obsession. "Das ist die ,Schwarze Null'." Um diese zu erreichen, greife Schäuble in die Sozialkassen. "Die Rentenversicherung wird ausgepresst wie eine Zitrone."

Was wollen die Kritiker ändern?

Aus der Union gibt es verschiedene Forderungen: Zum einen wird vorgeschlagen, einen Stichtag festzulegen, ab dem Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht mehr angerechnet werden, beispielsweise ab dem Datum der Verabschiedung des Gesetzes. Das gilt allerdings rechtlich als schwierig, weil Arbeitslosigkeit dann unterschiedlich behandelt würde, je nachdem, wann sie in einer Erwerbsbiographie stattgefunden hat. Wer nach dem Stichtag unfreiwillig arbeitslos würde, wäre benachteiligt. Darüber hinaus gibt es aus der Union die Forderung, maximal fünf Jahre Arbeitslosigkeit anzurechnen. Das würde zwar symbolisch nach einer Begrenzung aussehen, in der Praxis würde es allerdings keinen großen Unterschied machen. Nahles hat sich in ihrem Gesetzentwurf ohnehin auf Kurzzeitarbeitslosigkeit beschränkt – also Zeiten mit Arbeitslosengeld-Bezug. Hartz IV oder Arbeitslosenhilfe bleiben hingegen außen vor. Diese Regelung führt automatisch dazu, dass der Kreis der Berechtigten eingeschränkt wird. Für die Antwort auf eine kleine Anfrage der Grünen hat das Arbeitsministerium eine Stichprobe gezogen. Danach hätten im Jahr 2011 lediglich 3,4 Prozent der Berechtigten fünf Jahre oder mehr in ihrem Leben Arbeitslosengeld bezogen. Im Streit über die Rente mit 63 bringen die Unions-Mittelständler außerdem eine ganz neue Forderung ins Gespräch, welche auch in der Fraktionsspitze Gefallen findet: den flexiblen Renteneintritt.

Im Koalitionsvertrag steht keine Beschränkung der Arbeitslosenzeit

Was hatten Union und SPD verabredet?

Beim Thema Rente haben Union und SPD den einfachen Kompromiss gesucht, nach dem Motto: Jeder bekommt seins. Die Sozialdemokraten stimmten den Verbesserungen bei der Mütterrente zu, obwohl diese aus der Rentenkasse und nicht aus Steuergeldern finanziert werden. Die Union wiederum schluckte die abschlagsfreie Rente mit 63. Über die Ausgestaltung wurde in den Koalitionsverhandlungen in der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales länger gerungen. In der Union heißt es nun, es seien immer maximal fünf Jahre Arbeitslosigkeit gemeint gewesen. Im Vertrag findet sich allerdings keine Begrenzung, sondern lediglich die Formulierung „45 Beitragsjahre, einschließlich Zeiten der Arbeitslosigkeit“. SPD-Fraktionsvize Carola Reimann ermahnt daher ihre Unionskollegen, sich an die Verabredungen zu halten. „Wir erwarten, dass die Union vertragstreu ist.“

Warum ist für die SPD die Rente mit 63 so wichtig?

Über die Rente mit 67 gab es in der SPD-Basis von Anfang an Murren. Für die SPD-Spitze bot sich in dieser Regierung nun die Gelegenheit, Arbeitnehmern wieder den vorzeitigen Ausstieg aus dem Arbeitsleben zu ermöglichen, ohne dass sie dafür empfindliche Einbußen in Kauf nehmen müssen. Die abschlagsfreie Rente mit 63 gehört neben dem gesetzlichen Mindestlohn zu den Projekten, bei denen die Partei bei den Gewerkschaften im Wort stand. Für den Grundgedanken – wer sein Leben lang geschuftet hat, muss auch früher in Rente gehen dürfen – war die Union in der Vergangenheit prinzipiell offen.

Schon jetzt gibt es im Gesetz eine Ausnahme für langjährig Versicherte, auf den Weg gebracht von der letzten großen Koalition: Wer es auf 45 Beitragsjahre bringt, kann auch künftig mit 65 statt mit 67 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Dabei werden allerdings Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht angerechnet. Das wollte die SPD dieses Mal anders handhaben.

Begründet wird das auch damit, dass es große Umbrüche in der Wirtschaft gegeben hat, etwa durch die deutsche Wiedervereinigung oder den Strukturwandel in bestimmten Regionen wie dem Ruhrgebiet. Diese Prozesse hätten dazu geführt, dass viele Menschen - zumindest vorübergehend - ihre Jobs verloren hätten, auch wenn sie später wieder Fuß gefasst hätten. Auch sie müssten jetzt die Chance haben, auf die erforderlichen Beitragszeiten zu kommen. Allerdings heißt es auch in der SPD, die Rente mit 63 sei nicht für diejenigen gedacht, die sehr lange Zeit arbeitslos gewesen seien. Genau das sei aber durch die vorgeschlagene Regelung gewährleistet. (mit dpa)

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