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Die Hinterlassenschaft. 11 Kilometer aneinander gereihte Akten, darunter zahllose Spitzelberichte, hat die Stasi in ihren Archiven gehortet.

© dpa

Streit um Stasi-Forschung: Der IM, der keiner war

Wer ist als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi zu bewerten - und wer nicht? Das jüngst erschienene Buch des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk "Stasi konkret" hat eine heftige Kontroverse ausgelöst . Unser Autor, wie Kowalczuk bei der Stasiunterlagenbehörde beschäftigt, setzt sich kritisch mit dessen Thesen auseinander.

Mit seinem Buch "Stasi konkret" stellt Ilko-Sascha Kowalczuk, Mitarbeiter der Forschungsabteilung der Stasiunterlagenbehörde, grundlegende Ansätze der Forschung zum Phänomen Staatssicherheit infrage. Insbesondere sein Zweifel an der bisherigen Kategorisierung der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) und die Mahnung, die eigentliche Verantwortung der SED nicht aus den Augen zu verlieren, werden in der Behörde selbst, aber auch in Wissenschaftlerkreisen darüber hinaus breit diskutiert. Ein anderer Wissenschaftler der Jahn-Behörde, Christian Booß, setzt sich im folgenden Beitrag kritisch mit Kowalczuks Thesen auseinander. Dieser Beitrag wurde dem Tagesspiegel freundlicherweise von der Redaktion der Aufarbeitungszeitschrift "Horch und Guck" vorab zur Verfügung gestellt, die im nächsten Heft Nr. 79 I/2013 eine Debatte zum Thema "Verharmlosung" dokumentieren wird.

Die umstrittene Botschaft von Ilko-Sascha Kowalczuk lautet, dass die Zahl der bösen Stasi-IM bei weitem nicht so hoch sei, wie bisher angenommen, sondern  um knapp die Hälfte reduziert werden müsse: 109.000 statt 189.000 (S. 232). Die Stasi wird demnach „überschätzt“. Das Ganze ist die Ouvertüre zur Vermarktung des Buches. Ewiggestrige und DDR-Nostalgiker werden sie gerne hören, selbst wenn das nicht die Intention des Autors gewesen sein mag. 

Mit derartigen Enthüllungen sind wir wieder bei den Zahlen gelandet, die das MfS/AFNS dem runden Tisch präsentierte, als es Offenheit demonstrieren und gleichzeitig den Bürgerzorn eindämmen wollte. In "Stasi konkret" wird unterstellt, die Zahlen seien künstlich hochgerechnet worden, "hineinaddiert" heißt es in Medienberichten, um das Phänomen Stasi zu dämonisieren. 

Wie war das in Wirklichkeit, beispielsweise bei den West-IM? In den neunziger Jahren gab es Hochrechnungen, die von 20.000 West-IM oder sogar mehr ausgingen. Die Spionage-Abteilung hatte ihre Akten weitgehend vernichtet, es musste mit (wie wir heute wissen) problematischen Hilfskonstruktionen gearbeitet werden. Dann gaben die USA neue Quellen, die sogenannten "Rosenholz"-Daten, frei. Auf Basis dieser Quellen wurden rund 1500 West-IM errechnet. Diese Zahl  beruht unter anderem auf den sogenannten Statistik-Bögen der Spionageabteilung, die den Stand für Dezember 1988 abbilden. Es sind Kurzviten von Einzel-Agenten, die man auch noch in Verbindung zu anderen Karteikarten und Datenbankeinträgen, teils auch Akten verifizieren und aufhellen kann. Bei allen Schwächen, die auch diese Quellen haben - wie gesagt, die meisten Akten sind vernichtet - handelt es sich bei der Zahl um eine skrupulöse Einzelfallauszählung, eine statistisch sehr konservative Berechnung. Denn es ist bekannt, das die USA bisher (leider) gar nicht alle Statistikbögen zurückgegeben haben. In "Stasi konkret" wird behauptet, diese Zahl der West-IM sei durch eine "Hochrechnung" oder gar "allein auf einer Schätzung" basierend (S.230) entstanden. Es wird suggeriert, sie sei aus den Verdachts-Ermittlungsstatistiken der Bundesanwaltschaft abgeschrieben. Mithin, diese Zahl sei "wissenschaftlich haltlos" und "unseriös" (S.232). Wer angesichts der wirklichen Zusammenhänge so formuliert, muss sich fragen lassen, ob er selbst das richtige Augenmaß hat.

Auch die Hochrechnung von rund 13.000 DDR-IM der HVA greift der Autor an. Er ist der Auffassung, sie könne nicht stimmen, da die verhältnismäßig kleine Schar der HVA-Operativ-Offiziere so viele IM gar nicht hätte führen können (S. 233 f.). Er suggeriert damit, dass diese 13.000 IM bislang als reguläre West-Spione eingestuft worden wären. Dergleichen ist aber gar nicht behauptet worden. Die DDR-Basis der HVA bestand ganz überwiegend aus Logistik-Helfern. Viele haben nichts weiter getan, als ihren Briefkasten als Deckadresse zur Verfügung zu stellen. Nur ein kleiner Teil aus dieser Zahl war als Werber, Instrukteur, Kurier semiprofessionell in der Bundesrepublik unterwegs. Nur diese Zahl von 13.000 IM basiert überhaupt auf  Hochrechnungen, die kompliziert sind, aber auch auf Quellenindizien und auf Aussagen von mit diesen Fragen befassten HVA-Offizieren. Insgesamt besagt sie aber nicht mehr, als dass es eines erheblichen logistischen Aufwandes bedurfte, um aus der DDR heraus Agenten im Westen zu führen. "Stasi konkret"  bauscht hier auf, um die Zahlen dann "widerlegen" zu können. 

In "Stasi konkret" werden auch - im Wesentlichen altbekannte - MfS-interne Statistiken präsentiert, um ganze Gruppen von Stasi-Helfern, vor allem IMK (Inoffizielle Mitarbeiter für konspirative Wohnungen) und GMS (Gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit) sowie angebliche Doppelzählungen aus der Statistik herauszurechnen. Warum es zahlreiche Statistiken vor allem aus den einzelnen Dienstbereichen des MfS gibt, die die Kategorien GMS und IMK einbeziehen, erklärt "Stasi konkret" nicht. Offenbar dienten die Statistiken unterschiedlichen Zwecken. Die Bereichsstatistiken weisen aus, wie das MfS seine Arbeitspotenzen außerhalb des eigentlichen MfS-Apparates informell in die Gesellschaft hinein vergrößerte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dass dieses Unterstützungspotenzial höchst unterschiedlich war, ist seit langem bekannt. Experten haben immer gemahnt, den Einzelfall genau zu betrachten. Bei der Überprüfung im öffentlichen Dienst wurde nach älteren Erkenntnissen nur weniger als die Hälfte, aus heutiger Sicht schätzungsweise ein Drittel der formal Stasi-Belasteten ausgesiebt, was für einen konsequenten Personalwechsel mit Augenmaß spricht. 

Das Gebot zu differenzieren, ergibt sich teilweise schon aus der Stasi-Definition. Dass jemand, der dem MfS eine Wohnung für konspirative Treffen zur Verfügung stellt, normativ nicht primär als Informant dient, ergibt sich aus der Sache selbst. Aber umfassende Stichproben der Behörde zeigten, dass auch nicht wenige IMK zusätzlich Informationen lieferten. Die Wohnungsleihgabe stand überdies nicht selten am Anfang oder am Ende einer Informantenkarriere. 

Dass IMK großenteils doppelt gezählt wurden, wie behauptet wird (S.226), müsste genauer belegt werden. Das System des MfS war nämlich gegen Doppelerfassungen gut gesichert. Um einen IM zu erfassen, musste ein Offizier über seinen Vorgesetzten einen Antrag bei der Archiv-Abteilung XII stellen. Diese prüfte in der Zentralkartei, ob schon eine Erfassung vorlag. Nur wenn das nicht der Fall war, bekam der Offizier Formulare und Aktendeckel, die es ihm erlaubten, einen IM-Vorgang überhaupt anzulegen und zu führen. Dieser kleinteilige Formalismus des MfS war eine sehr wirksame Methode, um in einem großen Apparat Doppelerfassungen auszuschließen. 

Es fragt sich ohnehin, ob der Autor, der konspirative Wohnungen ohne IM gefunden hat, nicht konspirative Objekte, die das MfS direkt anmietete, und IMK verwechselt hat. Unbeschadet der Statistik gibt es tausende IMK-Akten, in denen sich natürliche Personen zur konspirativen Wohnungsleihgabe bereit erklärt haben. Sie taten dies oft auch mit Unterschrift und Verpflichtungstext. Ohne diese Personen hätte der MfS-Apparat gar nicht seine Aufgaben hinter dem Rücken der Bevölkerung erfüllen können, denn in diesen Wohnungen fanden zumeist die heimlichen Treffen mit Informanten statt.  Es fragt sich überdies, ob hier nicht ein interessanter Typ eines angepassten Stasi-Mitläufers vorliegt. Er ist am Großen und Ganzen beteiligt, ohne (sogar weniger noch als der Informant) überhaupt Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, weil er gar ich weiß, was sich in den vier Wänden abspielt. Man sollte diesen Typ genauer beschreiben, statt ihn statistisch auszubuchen.

Warum der GMS nicht aus der IM-Kategorisierung ausgebucht werden sollte

Der Gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit (GMS) war der Stasi-Definition zufolge ein systemnaher Informant. In "Stasi-konkret" wird er als „parteiloyaler Denunziant“ (S. 222) bezeichnet. Es wird argumentiert, dass es jenseits der GMS weitere Personen in den Institutionen gegeben habe, die mit dem MfS kollaborierten. Der Begriff des "Denunzianten" ist in diesem Kontext unglücklich. Wenn eine Person so systemnah war, dass sie qua Beruf oder Funktion berichtete, ist das mit der klassischen Rolle des Denunzianten nicht gut beschrieben. Eine Informantenfunktion, die auch informellen, also nicht offen sichtbaren Charakter trug, ist allerdings im Grundsatz gegeben. Warum diese Gruppe also pauschal ausbuchen? Die Gesetze der Logik scheinen geradezu auf den Kopf gestellt. Müsste nicht konsequenterweise umgekehrt gefragt werden, ob auch  andere zur Gruppe der informellen Informanten des MfS hinzugerechnet werden sollten, die gar nicht in den klassischen Stasi-Kategorien  erfasst sind? Dies müsste doch die Schlussfolgerung sein, gerade wenn man die an sich richtige Forderung erhebt, sich von den MfS-Terminologien nicht beherrschen zu lassen. 

Der Autor von "Stasi konkret" hat bisher nicht mit Publikationen zur Geheimdienstforschung von sich Reden gemacht. Er hat vor allem als Oppositionsforscher beachtete Arbeiten zu krisenhaften Bewegungen in der DDR-Geschichte verfasst. Die Opposition war im Dauerclinch mit dem MfS, und das hat den Autor möglicherweise anfällig dafür gemacht, selbst zu sehr der Stasi-Perzeption zu folgen. 

Die Überwachung wird nämlich vor allem an Hand von Operativen Vorgängen exemplifiziert, die die Stasi-Haudegen selbst als Krönung ihrer geheimpolizeilichen Arbeit ansahen. Nur: Solchen Überwachungsformen waren weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung ausgesetzt. Dagegen wurden seit Mitte der siebziger Jahre Methoden eines Massenscreenings eingeführt, die für über die Hälfte der Bevölkerung Spuren in Karteien, Datenbanken und Ablagen hinterließen. Diese Massenüberprüfungen basierten nur noch zum Teil auf der klassischen IM-Spitzelei. Das MfS zapfte  Polizisten, Verwaltungsmitarbeiter, Feuerwehrleute, Polizeihelfer, Hausgemeinschaftsleitungsmitglieder, Hausbuchführer, ganz normale Nachbarn, Leitungspersonal in Betrieben und staatlichen Einrichtungen, Nomenklaturkader und viele andere an, um den Informationsbedarf befriedigen zu können. Dieses Phänomen ist unzureichend erforscht, aber Indizien sprechen dafür, dass hier ein nennenswertes, nicht zu unterschätzendes Bevölkerungspotenzial jenseits der IM in den Blick genommen werden muss. Um nicht falsch verstanden zu werden: Deren Beitrag war höchst unterschiedlich und reicht von der punktuellen Abschöpfung bis zur professionell geschulten Spitzelei. Allerdings wusste doch jeder, welchem Staat er Hilfestellungen gab. Insofern muss dieses Potenzial im Kontext des Komplexes von Denunziation, Informationsgewinnung und sozialer Kontrolle gesehen werden. Die erheblich gewachsene Zahl der Stasimitarbeiter verzahnte sich in dieser Zeit systematisch mit Funktionsträgern in anderen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen  und staatlichen Bereichen des SED-Staates. 

Es scheint, dass dieses System durchaus für das Land an der Systemgrenze spezifisch ist. Aus wirtschaftlichen und außenpolitischen Gründen nahmen die Ost-West-Kontakte immer mehr zu, die aus der Sicht der Klassenpolitik eigentlich nicht sein sollten. Der Kompromiss war, dass das MfS die Ressourcen bekam, den  Ost-West-Kontakten hinterher zu recherchieren. Es ist eine spannende Frage, ob dieses absurde Hase- und Igel-Spiel nicht zu einer Ausweitung bei gleichzeitiger Verflachung der Stasi-Überwachung geführt hat, die die DDR-Bevölkerung bis hinein in an sich loyale Schichten schließlich nur noch "genervt" hat. Die Entspannungstheorie würde somit auf paradoxe Weise bestätigt. Sie verstärkte (was in der Theorie nicht vorgesehen war) die Repression, begünstige damit aber den Untergang. Dies würde auch erklären, warum sich 1989 der Protest in der DDR, ganz anders als in den Staaten Ostmitteleuropas, dermaßen stark gegen die Stasi gerichtet hat. Dies könnte  auch erklären, warum bis heute tausende ehemalige DDR-Bürger ihre Stasi-Akten einsehen wollen und  in großen Teilen auch Substanzielles bekommen. Auch dies ist eine Besonderheit, die es in ostmitteleuropäischen Staaten so nicht gibt.   

Zu diesen substanziellen Veränderungen des MfS-Überwachungssystems finden sich in "Stasi konkret" nur wenig konkrete Ansatzpunkte. Darin, weniger in den Zahlenspielereien liegt die eigentliche Verharmlosung der "Überwachung und Repression". Die Akzentuierung der Zahlenakrobatik erscheint als Versuch des Verlages, das Buch mit einer marktgängigen These zu popularisieren. Während den Marketingstrategen vor zehn Jahren noch das Narrativ der Dramatisierung lohnend erschien, scheint heute das Narrativ der Entdramatisierung marktgängig zu sein. Während vor gut zehn Jahren die unterwanderte (Bundes-)Republik auf dem Verlagsprogramm stand, ist nun die angeblich nur noch halbunterwanderte DDR angesagt. Derartige Publikationsstrategien sind vielleicht geeignet, Auflagen zu steigern, aber am Gang der Forschung wird das letztlich wenig ändern. So wird es auch in diesem Falle sein. Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter.

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