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Die Flüchtlingsvereinbarung zwischen Ankara und der EU wurde im März geschlossen.

© dpa

Visafreiheit für Türken: Wie Erdogan und die EU um Flüchtlinge feilschen

Präsident Erdogan droht offen: Der EU-Türkei-Vertrag stehe auf der Kippe. Ist im Streit um die Visafreiheit die gemeinsame Politik noch zu retten?

Die Lage ist verzwickt: Die EU hat der Türkei im März die Visafreiheit im Gegenzug für die Kooperation in der Flüchtlingskrise in Aussicht gestellt. Allerdings muss Ankara 72 Bedingungen erfüllen, bevor türkische Bürger künftig ohne Visum in die EU reisen können. Weil bei einigen der Kriterien – vor allem der umstrittenen Anti-Terror-Gesetzgebung – aber kein Fortschritt in der Türkei zu erkennen ist, hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrem Besuch in Istanbul zu Beginn der Woche eine baldige Gewährung der Visafreiheit ausgeschlossen. Am Dienstagabend kam die Retourkutsche: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan drohte angesichts der Hängepartie im Visumsstreit, das Flüchtlingsabkommen mit der EU platzen zu lassen. Und Erdogan festigt seine Macht in der Türkei immer mehr: Am Mittwoch kam erstmals in Ankara das neue Kabinett zusammen – natürlich unter der Leitung des Staatschefs.

Was ist vom neuen Kabinett in Ankara zu erwarten?

Unbedingte Loyalität zu Erdogan ist das wichtigste Eignungskriterium für die Mitglieder der neuen Regierungsmannschaft. Unter anderem verlor der bisherige EU-Minister Volkan Bozkir, der an den Verhandlungen mit der Europäischen Union über das Flüchtlingsabkommen beteiligt war, seinen Posten. Ersetzt wurde er durch den bisherigen Sprecher der Erdogan-Partei AKP, Ömer Celik. Und der legte gleich mit Kritik an Europa los. Die EU-Perspektive sei für die Türkei zwar wichtig, aber nicht alternativlos, sagte Celik bei seiner Amtseinführung.

Der Ministerpräsident Binali Yildirim hatte bereits am Wochenende bei seiner Wahl zum neuen AKP-Chef klargemacht, dass er sich als Nachfolger des geschassten Premiers Ahmet Davutoglu dem Präsidenten Erdogan völlig unterordnen will. Bei der Verlesung eines Grußwortes Erdogans an den Parteitag erhoben sich die 1200 Parteitagsdelegierten und tausende Zuschauer von ihren Plätzen – eine kollektive Geste des Gehorsams und eine Szene wie aus Nordkorea, wie Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu im türkischen Nachrichtensender NTV sagte.

Impulse für die Europa-Politik dürften von dieser neuen Führung von Partei und Regierung nicht ausgehen. Mit seiner Warnung, das türkische Parlament werde den Flüchtlingsdeal mit der Europäischen Union nicht ratifizieren, wenn die zugesagte Visafreiheit für Türken im Schengen-Raum ausbleibe, hat Erdogan die Richtung der Post-Davutoglu-Ära vorgegeben. Die Brüsseler Haltung, wonach die Einführung der Visafreiheit an eine Liberalisierung der türkischen Anti-Terror-Gesetze gekoppelt ist, weist der türkische Staatschef zurück.

Was bedeutet Erdogans Drohung?

Mit seiner Warnung erhöht Erdogan den Einsatz im politischen Pokerspiel mit der EU. Erdogan und seine Anhänger sehen ihr Land im Streit mit der EU in einer sehr starken Position, weil die Europäische Union auf die Mithilfe Ankaras bei der Eindämmung des Flüchtlingsstroms angewiesen ist. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Wie bei einem echten Kartenspiel wird beim Polit-Poker um das Flüchtlingsabkommen mit Tricks und Finten gezockt – und Erdogan ist ein Meister des Bluffs.

Er hat in den vergangenen Jahren immer wieder eine erstaunliche Wendigkeit an den Tag gelegt, wenn es um seine eigenen politischen Ziele ging. Nun, da er ohne nennenswerte Einsprüche aus der Regierung die Zügel in die Hand nehmen kann, hat er es noch leichter, plötzliche Kehrtwenden einzuleiten.

Wie und warum könnte sich die Türkei noch bewegen?

Erdogan hat sich mehrmals und öffentlich auf ein Nein zu abgemilderten Anti-Terror-Gesetzen festgelegt. Dennoch dürfte er das Flüchtlingsabkommen und damit die von vielen Türken sehnlichst erwarteten Reiseerleichterungen nicht einfach so in der Versenkung verschwinden lassen: Schließlich wird in Ankara derzeit heftig über vorgezogene Neuwahlen spekuliert, bei denen Zugewinne für die AKP das Ziel Erdogans für ein Präsidialsystem ein gutes Stück näherrücken lassen würden. Ein Erfolg wie die Visafreiheit wäre für die AKP gut für den Wahlkampf.

Neben die innenpolitischen Überlegungen treten außenpolitische Aspekte: Wenn die Türkei ein erst vor wenigen Monaten ausgehandeltes Abkommen ohne triftigen Grund aufkündigt, schadet das der Glaubwürdigkeit des Landes auf internationaler Ebene. Derzeit spricht Ankara zum Beispiel mit Israel über eine Übereinkunft zur Normalisierung der Beziehungen: Verlässlichkeit ist in solchen Verhandlungen ein Muss.

Wo eine Lösung liegen könnte, hat Erdogan bisher nicht angedeutet. Zunächst einmal will er sehen, wie Europa auf seine Warnungen reagiert – es geht ihm auch darum, sich vor den eigenen Wählern als Staatenlenker zu präsentieren, der auf Augenhöhe mit der EU verhandelt.

Jenseits von Rhetorik und Taktiererei könnte ein möglicher Ausweg aus dem Streit um Visafreiheit und Terrorgesetze in einer Vereinbarung von Zwischenschritten durch die EU und die Türkei bestehen. Zwar kann die Türkei nicht die völlige Visafreiheit erwarten, solange sie ihre Anti-Terror-Gesetze nicht reformiert; die Reisefreiheit könnte aber für bestimmte Bevölkerungsgruppen eingeführt werden, etwa für Geschäftsleute, Studenten oder Akademiker.

Ist zu erwarten, dass die EU noch Zugeständnisse macht?

Bevor die Visafreiheit für die Türkei kommt, müssen die EU-Staaten und das Europaparlament zustimmen. Trotz der Drohungen Erdogans deutet nichts darauf hin, dass das Europaparlament Zugeständnisse machen will. Zunächst müsse Erdogan sich an die „eingegangenen Verpflichtungen wie die Erfüllung aller 72 Kriterien und die Überarbeitung der Anti-Terror-Gesetzgebung“ zur Gewährung der Visafreiheit halten, sagte der Fraktionschef der Sozialdemokraten, Gianni Pittella, dem Tagesspiegel. „Die Fraktion der Sozialdemokraten wird Wort halten und sich weder erpressen lassen, noch einen Rabatt bei den Prinzipien geben“, sagte der italienische Politiker weiter.

Angesichts der harten Haltung des Europaparlaments kann Ankara derzeit nicht darauf hoffen, dass sich die EU der Sicht Erdogans anschließt und die Anti-Terror-Gesetzgebung als adäquates Mittel im Kampf gegen die kurdische Terrororganisation PKK akzeptiert. Die EU kritisiert vor allem, dass die umstrittene Gesetzgebung in der Türkei genutzt wird, um missliebige Regierungskritiker mundtot zu machen.

Was meint Merkel, wenn sie auf weitere Verhandlungen setzt?

Nach der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg sagte Angela Merkel am Mittwoch, sie sei angesichts der jüngsten Äußerung Erdogans ,„nicht besorgt“. Zur Frage der Visabefreiung werde es Gespräche zwischen EU-Kommission und der Türkei geben, bei denen alles auf den Tisch komme, erklärte sie. Die Gelassenheit der Kanzlerin hat einen Grund: Erfahrene Gesprächspartner des türkischen Präsidenten wie Merkel wissen, dass die Drohung Erdogan, das Flüchtlingsabkommen möglicherweise platzen zu lassen, nicht unbedingt dessen letztes Wort sein muss.

Hindert die Türkei die Flüchtlinge weiter an der Flucht nach Griechenland?

Vorerst hält sich die Türkei jedenfalls an ihre Verpflichtungen unter dem Flüchtlingsabkommen mit der EU. Intensivierte Kontrollen an den Küsten und in der Ägäis haben die Zahl der Flüchtlinge der offiziellen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge um 80 Prozent zurückgehen lassen. Seit dem Inkrafttreten der Vereinbarung am 20.März sei kein einziger Flüchtling mehr in türkischen Hoheitsgewässern ertrunken, berichtete die Agentur vergangene Woche.

Angaben der Vereinten Nationen bestätigen, dass zumindest dieser Teil des Flüchtlingsdeals funktioniert. Demnach kommen im Durchschnitt pro Tag nur noch 47 Menschen in Griechenland an – im März waren es noch fast 900 jeden Tag, im vorigen Herbst mehrere tausend. Unterdessen suchen weiterhin jeden Monat tausende Flüchtlinge den Weg über die zentrale Mittelmeerroute von Libyen nach Italien. Zu Beginn dieser Woche wurden innerhalb von zwei Tagen rund 5600 Flüchtlinge auf dieser Route aus dem Meer gerettet.

Werden alle in Griechenland ankommenden Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt?

Die Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland durch die Türkei verläuft sehr schleppend. Bisher wurden lediglich 441 Flüchtlinge von den griechischen Inseln in die Türkei gebracht. Die Rückführungen sind vor allem wegen der Zweifel griechischer Gerichte an der Einstufung der Türkei als sicheres Drittland für die Flüchtlinge ins Stocken geraten.

Wie viele Flüchtlinge konnten im Gegenzug bis jetzt legal in die EU einwandern?

Die Flüchtlingsvereinbarung zwischen Ankara und der EU vom März sieht vor, dass die EU für jeden Syrer, der von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschoben wird, legal einen Syrer aus einem türkischen Flüchtlingslager aufnimmt. Seit dem Inkrafttreten der Vereinbarung wurden in der EU insgesamt 280 Syrer aufgenommen, davon 157 in Deutschland.

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