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Stromtrassen: Wer sich verleiten lässt

Neue Trassen sollen Windstrom quer durch Deutschland transportieren. Und auch quer durch die Uckermark. Dort gibt es Widerstand – und grundsätzliche Zweifel.

Zu dem, was Gunnar Hemme ertragen muss, gehört auch dieser Satz: „Stromtrassen sind etwas anderes als Windparks im schönen Frankenland.“ Gemeint sind Stromtrassen zum Beispiel in der Uckermark, wo Hemme lebt.

Ein Satz aus der Sitzung des Deutschen Bundestags vom 7. Mai 2009 und aus dem Mund des CSU-Abgeordneten Obermeier. Andererseits: Würden Franken Windparks bauen, hätten sie Windenergie, ohne dass die durch neue Stromtrassen von der Ostsee quer durchs Land nach Süden geleitet werden müsste. Sie wären dann ganz vorn dabei bei der Energiewende, die, seit Atomkraftwerke in Serie abgeschaltet werden, täglich für dringlicher erklärt wird. Doch wie sagte Obermeier auch: „Viele Leute wollen das nicht.“ Also nicht.

Da, wo wenige Leute sind, ist die Uckermark. Weites Land zwischen Berlin und Polen, strukturschwach, aber naturstark. Die Biosphäre Schorfheide-Chorin erstreckt sich hier über 1300 Quadratkilometer, ein Naturpark von Weltrang, und darin fächert sich das Dilemma einer modernen Energieversorgung breit auf.

An einem Apriltag parkt Gunnar Hemme seinen Kombi vor einem Molkereizweckbau in Angermünde, Ortsteil Schmargendorf, und atmet auf dem Weg dorthin nur flach. Starker Wind weht den stechenden Gülledunst vom nahen Kuhstall herbei. Landluft. Drinnen, im Flur, langt er ins offene Kühlregal und greift drei Milchdrinks raus, einen in Rosa, einen braunen und einen gelben. Er eilt ins Büro, von dem aus kann er durch ein großes Fenster in seine Molkerei schauen. Gunnar Hemme, 40, ist kräftig und blond, in zweiter Ehe Vater von vielen Kindern und Nachfahre eines niedersächsischen Milchbauern. Vor 13 Jahren kam er in den Osten, gründete den kleinen Hemme-Milch-Betrieb und sah den langsam wachsen. Peng! Hemme rammt einen Strohhalm in den Aludeckel auf dem braunen Drink, Geschmacksrichtung Schoko, saugt und schluckt und referiert die drei wesentlichen Aspekte des Erfolgs. Erstens kurze Wege, „heute gemolken, morgen auf dem Tisch“. Zweitens Transparenz. „Der Kunde kann seinen Milchliter verfolgen bis zurück in die Kuh.“ Und drittens Authentizität. „Das ist eine unternehmergeführte Molkerei, es gibt Herrn Hemme, das bin ich, und mich kann man anfassen.“

Damit ist Hemme-Milch in den drei wesentlichen Aspekten ganz anders als Stromwirtschaft und Regierung, mit denen er sich gerade streitet. Denen geht es um lange Wege, gar ein transnationales Verbundnetz, um Stromtransporte quer durch Europa. Es gibt viele Entscheidungsträger, viele Gutachten und viele Beschlüsse. Das Ganze ist statt transparent einigermaßen unübersichtlich. Schon im Groben. Da werden etwa die neuen Stromtrassen gern als allein für erneuerbare Energien nötig dargestellt und damit ideell aufgewertet, sie werden zu guten Trassen. Aber so steht es nicht im Gesetz. Da steht: neue Trassen für neue Kraftwerke. Auch konventionelle.

Schon an jenem 7. Mai 2009 stimmte der Bundestag für das Gesetz zum Ausbau von Energieleitungen, kurz Enlag, demzufolge 24 aufgelistete Trassen beschleunigt zu bauen seien. Nummer 3 auf der Liste ist die Uckermarkleitung. 115 Kilometer lang soll die werden, von Berlin nach Bertikow bei Prenzlau führen, einen Schlenker an die polnische Grenze machen und auf 25 Kilometern das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin queren. Ihre Masten werden riesig sein und Höchstspannung führen. Sie wird damit nicht nur den Anblick von Hemmes Grundstück verhunzen, sondern auch die Weiden des Ökodorfs Brodowin, die Wiesen von Gut Kerkow (Werbeslogan: „Urlaub auf dem Bauernhof – Was Städter vermissen“), die Saftmosterei Klimmek sowie ein paar kleinere Hotelbetriebe, die mit Erholung im naturbelassenen Biosphärenreservat locken. Ist das alles nichts? Hemme hat die Schokomilch geleert, peng, knallt der Strohhalm in den nächsten Drink. Erdbeere.

„Es geht mir nicht um einen Baum, der gefällt wird, oder die Kröte im Sumpf“, sagt er. „Aber hier wohnen Menschen.“ Die fühlen sich arrogant übergangen. Und die Unternehmer unter ihnen fühlen sich auch verraten in ihren Bemühungen um die Region. Sie haben eine Bürgerinitiative gegründet, Geld gesammelt, Gutachten in Auftrag gegeben, die feststellen, dass die Trasse die Landschaft beschädigt, den Vogelschutz missachtet, die Bevölkerung gefährdet, als Konstruktion anfällig ist und Folgen haben wird. Die Bürgerinitiativler sagen jetzt nicht: Wir sind gegen Stromtrassen. „Wir sind keine Totalverweigerer“, das möchte Hemme immer noch mal betonen, das betonen sie alle immerzu noch mal. Nein, sie sagen Ja zu Windkraft, Ausbau, sogar zu Offshore-Anlagen, die in der Ostsee entstehen, deren Strom dann durch die Uckermarkleitung fließen wird. Ihre Forderung ist einzig: Ändert die Trasse ein wenig, sie haben Vorschläge gemacht. Oder tut die Leitungen unter die Erde. Wenigstens hier vor unserer Haustür! Aber wem sagen sie das?

Die Absage steht seit Mai 2009 fest. Von den 24 Enlag-Leitungen werden vier als Pilotprojekte abschnitts- und versuchsweise unterirdisch verlegt: drei in Niedersachsen, eine in Thüringen, keine in Brandenburg. Das war ein Parlamentsmehrheitsbeschluss. Doch die Minderheit ist nicht überzeugt, die Argumente haben sich nicht verändert. Es gab und gibt diejenigen, die sagen: Erdkabel im Höchstspannungsbereich sind teuer und technisch unausgereift. Da die Netzbetreiber sich die Netzbaukosten über Gebühren letztlich vom Stromkunden bezahlen lassen, bedeute mehr Erdverkabelung höhere Stromkosten. Und es gab und gibt diejenigen, die sagen, Erdkabel seien gar nicht so viel teurer, aber störungsresistenter, also auf lange Sicht rentabler.

Es gab und gibt diejenigen, die sagen, zentrale Energiegewinnung und Megatransporttrassen sind der falsche Weg, vielmehr sollte Strom dezentral erzeugt werden, da, wo er gebraucht wird. Und es gibt solche, die wie Obermeier finden, das Frankenland sei dafür zu schön.

Es gab und gibt diejenigen, die drängeln: Wer Ja sage zu erneuerbaren Energien, müsse auch Ja sagen zum beschleunigten Netzausbau. Und diejenigen, die bremsen und finden, das Gesetz trage die Handschrift der großen Stromerzeuger und antidemokratische Züge.

Zu denen gehört Johannes Niedeggen von Gut Kerkow aus der Biosphäre. Mehrere Millionen Euro hat er investiert, seit er 1993 das Gut übernahm und zu einem Rinderzuchtbetrieb mit Ferienpension ausbaute. Auch er ist für erneuerbare Energien, er hat eine Biogasanlage, die – wie das ganze Brandenburg – Stromüberschuss produziert, der werde über kleine Leitungen abtransportiert. Das gehe. Aber wer mache Urlaub im Schatten einer Höchstspannungsleitung? Niemand! Also brüllt Niedeggen ins Telefon, dass sich Kapital und Politik gegen den Bürger verschworen hätten. Er sei aus Köln, also einiges gewöhnt. Aber das hier? Er brüllt: Man lebe doch wohl offiziell noch in einer Demokratie, oder nicht?

Gunnar Hemme erinnert sich an einen Auftritt von Matthias Platzeck beim Neujahrsempfang in Angermünde. Platzeck ist Ministerpräsident von Brandenburg und direkt gewählter Landtagsabgeordneter des Angermünder Wahlkreises, und doch habe er auf dem Empfang genauso geredet wie die Leute von der Netzbaufirma, sagt Hemme. „Dieselben Worte.“

Die Netzbauer sind die Netzbetreiber, per Energiewirtschaftsgesetz zur Sicherstellung der Stromversorgung verpflichtet. Es gibt vier Betreiber der Übertragungsnetze, hervorgegangen aus den vier großen Stromkonzernen, RWE, EnBW, Eon, Vattenfall. Das Netz von Vattenfall – Ostdeutschland plus Hamburg – gehört der Firma 50Hertz Transmission, die seit 2006 an der Uckermarkleitung plant.

Bereits 2005 wurde die Trasse für nötig erklärt. In einer Studie der Deutschen Energie-Agentur Dena, was unparteiischer klingt, als es ist. Denn zu denen, die am Netzausbauplan mitrechneten, gehörten neben anderen auch alle vier Netzbetreiber. 850 Kilometer neue Höchstspannungsleitungen seien nötig, hieß es 2005, die Folgestudie von 2010 kam bereits auf 3600 Kilometer. Beide Zahlen sind wenig nachprüfbar. Der BUND rügt, dass die Auslastungen der Netze nicht offengelegt würden, dass Netzbetreiber ohne Datennachweis Neubauten für nötig erklärten. Die Deutsche Umwelthilfe bemängelt das gesamte Planungsverfahren als unzureichend und darüber hinaus, dass technische Neuerungen nicht berücksichtigt würden. Eine „Informationsasymetrie“ haben auch Wirtschaftswissenschaftler der Technischen Universität Berlin festgestellt: „Die Netzbetreiber verfügen über die Daten und führen die Modellrechnungen aus, während die Dena koordinierend und die Bundesministerien nicht direkt an den Netzplanungen beteiligt sind.“ Damit werde der Staat seiner Infrastrukturverantwortung „nur unzureichend gerecht“. Außerdem könnte das Missverhältnis, das formulieren die Wissenschaftler selbst in Anführungsstrichen „zu einer überhöhten Informations,rente’ für die Übertragungsnetzbetreiber führen“.

Bei 50Hertz sieht man das naturgemäß anders. Die Not im Netz sei groß, von den 2005 für nötig erklärten neuen Trassen sei kaum eine gebaut, die Uckermarkleitung steckt noch immer im Planfeststellungsverfahren. Es brauche einen „Befreiungsschlag“, sagte ein 50Hertz-Verantwortlicher im Brandenburger Landtag. Man versuche, die Bevölkerung mitzunehmen, das gehöre zur Unternehmensphilosophie, man sehe sich als Dienstleister der Gesellschaft.

Andererseits gehört 50Hertz Transmission zu 40 Prozent einem australischen Rentenfonds, der auch in den polnischen Energiesektor investiert, was soll den die deutsche Gesellschaft scheren. Die übrigen 60 Prozent gehören dem Übertragungsnetzbetreiber Elia aus dem Atomstromland Belgien. In Hemmes Bürgerinitiative sind deshalb manche sicher, dass die Windenergie nur vorgeschoben sei. Perspektivisch gehe es vor allem um den Transport von konventioneller Energie. Polen will zwei Akw bauen.

All das würde sich natürlich auch nicht ändern, wenn zwischen Hemme-Milch, Gut Kerkow und Brodowins Ökowiesen Erdkabel verlegt würden. Die Stromwirtschaft bliebe weiterhin unübersichtlich bis abgründig, der Gesetzgeber wäre ihr weiterhin kein gleichrangiger Partner, sondern unterlegen, vielleicht sogar ausgeliefert. Hemme und die anderen würden das dann aber nicht mehr sehen müssen. Und vielleicht würde es sie dann auch nicht länger aufregen.

Sie hoffen, dass es so kommt. Hoffen, dass ihre Landesregierung die Bundesregierung überzeugen kann, dass jenseits der vier Pilotprojekte aus dem Enlag weitere „volkswirtschaftlich sinnvolle“ Teilerdverkabelung ermöglicht gehört. Volkswirtschaftlich sinnvoll, so steht es im Antrag der SPD- und der Linken-Fraktionen. Nicht: marktwirtschaftlich. Und sie hoffen, dass das Planfeststellungsverfahren wegen ihrer Einwände scheitert.

Der letzte Drink ist warm geworden. Vanille. Hemme schiebt den Becher weg. Gleich wird er sich auf den Weg nach Hause machen. Er wohnt ganz abgelegen, fast schon im Wald. Als er damals das Grundstück mit dem Haus drauf gekauft hat, war das Haus sehr baufällig. Trotzdem hieß es: sanieren – ja. Abreißen, neu bauen – nein. Bestandsschutz, sagte man Hemme, wegen Biosphäre. Und der sagt 13 Jahre später: „Ich durfte nicht mal einen Carport bauen, und jetzt bauen die hier eine Höchstspannungsleitung hin?“

Zwischen Molkerei und Kuhstall verläuft übrigens eine Stromtrasse. Eine kleine, die Hemme ignorieren kann. Einem der Masten zu Füßen liegt ein Straßenschild im Dreck. „Heideweg“. Zweckfrei und platt liegt es da, und das Ganze sieht aus, als sei der Kampf Heide gegen Strom bereits entschieden.

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