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Politik: Suche Nägel, biete Theater

Die Berliner Bühnen spielten ohne Unterlass – vor allem Kabarett, jetzt, da man wieder den Mund aufmachen durfte

„An fast 20 Stellen wird Theater gespielt. Tatsächlich. Überall. Täglich findet mindestens ein halbes Dutzend Konzerte statt. Zwei Opernhäuser spielen ständig – welche Stadt der Welt hat das noch?“, notiert der Kritiker Friedrich Luft im Februar 1946. „Ist da eine ungesunde Hausse der Kunst ausgebrochen, hat der Drang vor die Bühnen und in die Lichtspielhäuser nicht etwas Leichtfertiges, Frivoles an sich? Nein, Kunst ist notwendig, gerade jetzt in der Not. Erst der Geist füllt das Leben, und ich will in keiner Welt leben, die ohne Musik ist.“

Nur sieben Monate lang waren die Vorhänge unten geblieben, seit Goebbels zum 1. September 1944 sämtliche Theater, Varietés, Kabaretts und Schauspielschulen hatte schließen lassen – um „Kriegsdienstverwendungsfähige“ der Rüstungsproduktion oder der Wehrmacht „zuzuführen“. Und doch regte sich sofort nach der Kapitulation bei den Berlinern ein ungeheures Bedürfnis nach Kultur. Noch schöner war wohl nur die Ruhe, die auf den Straßen eingekehrt war. Kein Maschinengewehrfeuer mehr, kein Geschützdonner, kein Fliegeralarm – nur Stille.

Am 16. Mai verfügte der russische Stadtkommandant Bersarin eine „allgemeine Spielerlaubnis“ für alle Bühnen, am 27. desselben Monats fand bereits die erste Aufführung statt: „Der Raub der Sabinerinnen“ im Renaissance-Theater. In Windeseile wurden bespielbare Stätten hergerichtet, fanden sich bunt gemischte Darstellertruppen zusammen. Vor allem nach leichter Unterhaltung bestand größte Nachfrage. So etabliert sich beispielsweise im stark beschädigten „Großen Schauspielhaus“ Max Reinhardts nach notdürftigen Reparaturen im August eine Revuebühne mit 3000 Plätzen (der spätere Friedrichstadtpalast). Von den 121 Premieren, die zwischen Juni und Dezember 1945 stattfanden, waren nur elf Opern, sechs Schauspielklassiker und 20 Werke der neueren Dramatik. Operette, Schwank und Boulevard boomten – und Kabarett natürlich, jetzt, wo man endlich wieder der Mund aufmachen durfte.

Natürlich waren da auch Vorkämpfer für das Theater als „moralische Anstalt“ wie Karl Heinz Martin, der das Hebbel- Theater im August 1945 programmatisch mit Brechts „Dreigroschenoper“ eröffnet (Hubert von Meyerinck spielte den Mackie Messer!). Bis zu seinem Tod 1948 wird Martin das Haus zur führenden Bühne der Westsektoren machen. Und dann ist da noch Boleslaw Barlog, der an der Kasse seines Steglitzer Schlossparktheaters ein Schild anbringen lässt, auf dem zu lesen ist: „Suche Nägel, biete gutes Theater!“ Die Besucher bringen Decken mit, oder auch Kohle, man sitzt oft bei Kerzenschein, weil die Stromversorgung mal wieder zusammengebrochen ist. „Trotz alledem“, erinnert sich der Regisseur 1976, „war das Publikum einmalig.“

Barlog war es, der den blutjungen Klaus Kinski 1946 ans Schlossparktheater holte. In den Augen des großen Theaterkritikers Herbert Jhering übertreffen die Nachwuchsschauspieler der ersten Stunde selbst „die besten aus der großen Reinhardt-Generation“ – weil ihr Spiel den Zuschauer „so direkt, so ohne formalistische und epigonenhafte Umwege“ anspringt. Mit diesen Debütanten, 1948 schreibt Jhering in seiner „Berliner Dramaturgie“, lässt sich ein Schauspiel aufbauen jenseits der Manierismen der frühen 30er Jahre und dem hohlen Pathos der NS-Zeit. „Shakespeares Königsdramen zum Beispiel lesen wir jetzt nicht als ferne Historien, sondern als grandiose dichterische Gleichnisse, als phantastische, anschauliche, erregende, spannende, dramatische Lehrbücher der politischen Geschichte.“

Daneben gilt es zu entdecken, was im Ausland entstanden war: Thornton Wilder, Jean Anouhil und Giraudoux, vor allem Jean-Paul Sartres „Fliegen“: In der Neudeutung des griechischen Atriden- Dramas hängen sich die Fliegen in Schwärmen an die Menschen, um sie unablässig an ihre Bluttaten zu erinnern. Harter Tobak für das Berliner Publikum. Aber absolut notwendiger, wie Jhering findet: „Erst in der Auseinandersetzung mit solchen Dichtungen erstarkt das deutsche Theater. Es muss das Fieber durchmachen, um zu genesen, es muss die fremden Bestandteile verarbeiten, um zu sich selbst zu kommen. Das sei die Widerstandsbewegung unserer Bühnen: solchen Dichtungen ins Medusenantlitz zu blicken, den Schrecken zu überwinden und aus der Vernichtung noch Kraft zu gewinnen.“

Während die Deutsche Oper in der Ausweichspielstätte Theater des Westens und die Staatsoper im Admiralspalast erst im September starten können, geben die Berliner Philharmoniker ihr erstes Konzert bereits im Mai, im Steglitzer Titania-Palast. Das alte Kino mit seinem 2000-Plätze-Saal wird schnell zum musikalischen Zentrum. Hier dirigiert auch Wilhelm Furtwängler erstmalig wieder sein Orchester, nachdem Ende April 1947 seinem Entnazifizierungsantrag stattgegeben worden war. Die Karten werden wie Zigaretten auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Erika Mann, als Europakorrespondentin für amerikanische Zeitungen in Berlin, findet die Begeisterung allerdings befremdlich: „Hatten seine Landsleute wirklich die ganze Politik vergessen und sich in der Musik verloren?“

Katalog: „Theater in Berlin nach 1945“,

Hg. Stiftung Stadtmuseum Berlin

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