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Syrien: Eindrücke aus einem gespenstischen Land

In Damaskus ist fast alles wie immer, die Mittelschicht verhält sich ruhig, denn sie hat etwas zu verlieren. Auf dem Land aber begehren Menschen auf. Menschen wie Ali, der sich nicht von Milizen terrorisieren lassen will.

Die Gräber sind frisch. Ein Dutzend Erdhügel, gerade aufgeschaufelt. Schief stehen weiße Grabsteine in der lockeren Erde, auf den kleinen Hügeln stecken Palmwedel und große grüne Blätter, von denen manche schon zu vertrocknen beginnen. In Eile sind sie begraben worden, Opfer der Straßenkämpfe im syrischen Hama – von denen, die nun mit hängenden Armen und in verschmutzten T-Shirts vor den Gräbern stehen. Vielleicht sind sie müde, vielleicht traurig, vielleicht enttäuscht. Vielleicht ist es auch nur ein kurzer Moment der Ruhe in ihrer Stadt, die in den vergangenen Tagen plötzlich zum Kriegsgebiet geworden war. Vielleicht auch nicht.

Aber viel mehr als „vielleicht“ lässt sich kaum sagen, denn die Bilder sind aufgenommen von einem der Totengräber, einem Bewohner der Stadt Hama, einem Kämpfer. Sie sind zu finden im Internet, wie so viele andere Amateuraufnahmen, die zeigen, was in diesen Wochen passiert in dem Land, das ausländische Berichterstattung unterbindet. Anonyme Nachrichten, unscharfe Videos, aufgenommen mit Handykameras, sind, was dem Ausland als Anschauung bleibt. Oder Berichte von Ausländern in Syrien, die nicht als Journalisten dort sind, die deshalb nicht als Urheber von Texten wie auch diesem gelten wollen, weil das Ärger für sie bedeuten würde. Ärger mit einem Willkürstaat, der sich derzeit weder von der UN noch von arabischen Freunden irgendetwas sagen lassen will.

„Allahu Akbar“ rufen die Kämpfer in den Straßen von Hama. Allah ist groß. Ein Schlachtruf und auch eine verzweifelte Selbstversicherung.

Am Mittwoch dann zog die syrische Armee, zehn Tage nach ihrem Einmarsch, viele Soldaten aus Hama ab. 40 Militärfahrzeuge verließen die Stadt, wie Teilnehmer einer von der Regierung organisierten Rundreise berichteten. „Mit unserer Seele und unserem Blut opfern wir uns für dich“, haben die Soldaten zu Ehren von Staatschef Baschar al Assad bei ihrer Abfahrt gerufen.

Unruhig wippt der 30-jährige Ali hin und her. Vor ein paar Tagen erst ist er aus Homs geflohen. Gemeinsam mit Freunden hat er in der syrischen Stadt, die vor allem wegen ihres Busbahnhofes bekannt ist, in dem die Busverbindungen des ganzen Landes zusammentreffen, gegen das Regime demonstriert. Als geheimer Treffpunkt diente eine abgelegene Farm, die ihnen sein Onkel zur Verfügung gestellt hat. Dort haben sie Plakate gemalt, Videos ausgewertet, Texte geschrieben. Gegen die Regierung, gegen den Gouverneur und gegen die Shabiah-Milizen. Die Shabiah, kleine paramilitärische Einheiten, die lokalen Geschäftsmännern hörig sind und je nach Bedarf von den Gouverneuren eingesetzt werden können. Rekrutiert werden sie aus den Alawi-Gebieten um Homs und Tartous, und oft sind sie eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, mit teils krimineller Vergangenheit.

Und die kamen plötzlich zu Macht. Ohne zu wissen, was genau sie tun sollen, kontrollieren sie nun die Stadt – mit improvisierten Straßensperren aus Schnüren und Tischbeinen, bewaffnet mit Schrotflinten.

Von ihrer plötzlichen Bedeutung berauscht, filmen sie sich ständig. Einige dieser Aufnahmen konnte ein Freund von Ali, der jemanden kennt, der wiederum jemanden von den Shabiah-Milizen kennt, von denen kaufen. Ali und seine Freunde unterlegten diese Aufnahmen mit dem Geblöke von Schafen, eine kleine Revanche der Homser.

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Die Homser haben sich zur Aufgabe gemacht, den Milizen das Leben so schwer wie nur möglich zu machen. Einmal nähten sie eine lebensgroße Menschenpuppe, die sie in der Dunkelheit auf einen Platz stellten. Es dauerte zwei Stunden, bis die Milizen sich trauten, der Attrappe so nahe zu kommen, dass sie die wahre Identität erkannten. Ein anderes Mal banden sie streunenden Katzen kleine Blechdosen an den Schwanz. Ein lautes Geschepper hallte durch die nächtlichen Straßen, Lärm, der scheinbar aus allen Richtungen kam und sich nicht orten ließ.

Doch dann wurde einer von Alis Mitstreitern von der Geheimpolizei verhaftet und das Versteck ausgehoben. Ali befürchtet, dass nun bald alle Namen seiner Gruppe bekannt sein könnten. Darum hat er seine Sachen gepackt und ist weg, nach Damaskus vorerst. Er hat einen Freund, der bei der Geheimpolizei arbeitet. Der hat versprochen, Einsicht in das Befragungsprotokoll zu nehmen, um zu erfahren, ob auch Alis Name gefallen ist. Falls Ali auf der Liste stehen sollte, kann er nicht mehr nach Homs zurück. „Damaskus ist ungefährlich für mich, hier stehe ich auf keiner Liste“, sagt er. Und falls es mit einer syrischen Befreiungsrevolution nicht klappen sollte, hat Ali schon einen Plan: „Ägypten und dann vielleicht in USA“.

Falls es mit der Revolution nicht klappen sollte! Während Ali in Syrien noch hofft, bereitet sich im Norden das Nachbarland Türkei auf das Schlimmste vor. Das Land, von dem die internationale Gemeinschaft hoffte, es habe Einfluss auf Syrien, schickte am Dienstag Außenminister Ahmet Davutoglu zu Präsident Assad nach Damaskus.

Sechseinhalb Stunden habe man diskutiert, gab Davutoglu am Abend, zurück in Ankara, zu Protokoll. Der Gesprächsinhalt: sehr konkrete Reformforderungen. Nun, sagte Davutoglu, komme es auf die Schritte der Syrer an. Vor allem der „Willen des Volkes“ solle beachtet werden.

Die Menschen in Damaskus, entfernt von den Städten, in denen die Gewalt eskaliert, leben dieser Tage wie in einer Blase. Das Leben geht weiter. Cafés und Bars sind gut besucht, in den Straßen herrscht Verkehr und übliches Treiben. Nur die Ausländer, europäische und japanische Entwicklungshelfer, Botschaftsmitarbeiter, sind aus der Stadt verschwunden. Nach den wenigen Europäern auf der Straße drehen sich die Einheimischen wieder um. Von heute auf morgen verließen Mitarbeiter internationaler Organisationen die Stadt, Projekte wurden plötzlich gestoppt, Geldflüsse gekappt. Dass er nach einem Urlaub in der Heimat wieder zurückkehrte nach Damaskus, sagt einer, der seit Jahren dort lebt, habe seine syrischen Kollegen über alle Maßen gefreut. Das Volk, dessen Willen die internationale Politik gern von dessen Regierung berücksichtigt wissen will, fühlt sich allein gelassen.

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Nur Stunden nachdem die Politiker am Dienstag über ein Ende der Gewalt diskutierten, zitierte die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana Präsident Assad mit folgenden Worten: „Syrien wird nicht davon ablassen, die bewaffneten terroristischen Gruppen zu verfolgen.“ Dass Terroristen aus dem Ausland die Gewalt auf syrische Straßen brachten, sei ein Mythos, erzählt ein Bewohner aus Damaskus. Verbreitet werde der vom Regime und den Shabiah-Milizen.

Die schießen von Dächern auf demonstrierende Menschen und versuchen, religiöse Gruppen im Land gegeneinander aufzuwiegeln. Die Proteste, so soll es erscheinen, seien interreligiöse Konflikte, die von der Regierung unter Kontrolle gebracht werden müssen. Als „Jubel-Syrer“ mischten sie sich unter Menschenmassen nach dem Freitagsgebet, zückten plötzlich Plakate mit Bildern von Assad, taten so, als sei die Masse mit ihnen – und dem Präsidenten. In Damaskus zettelten sie eine spontane Demonstration an vor dem Gebäude des Fernsehsenders Al Dschasira. Dessen Berichterstattung missfiel, weil sie zu kritisch war. Die öffentlichen syrischen Medien hingegen unterstützen das Regime, berichten von Besuchen des Präsidenten bei verwundeten Soldaten, sprechen vom drohenden Bürgerkrieg.

Die Flaniermeilen in der Damaszener Altstadt sind an manchen Stellen so dicht mit kleinen Marktständen bepflastert, dass man auf die Straße ausweichen muss, will man den Weg passieren. Vor einiger Zeit waren diese fliegenden Händler nur an einigen Stellen erlaubt. Inzwischen wagen sie sich weit ins Stadtzentrum vor, ohne von den Gesetzeshütern behelligt zu werden. Es scheint, als seien sie die Profiteure der Lage. Die Hauptstädter decken sich auf diesen wilden Märkten für das Fastenbrechen ein, das während des Ramadan allabendlich durch einen Kanonenschuss eingeleitet wird. Die köstlichen Süßigkeiten und der Überfluss an Speisen, die dann gereicht werden, lassen nicht vermuten, dass neben der Angst, der Aufstand könnte auch die Hauptstadt erreichen, die Furcht vor dem wirtschaftlichen Niedergang die Menschen beschäftigt. Lebenskosten und Mieten in der Stadt sind sehr hoch, der Verdienst im Vergleich gering. Immer mehr Menschen verlassen die Stadt, rund um Damaskus entstehen illegale Siedlungen.

Wer Geld hat, versucht, dafür US-Dollar zu bekommen. Für die gibt es einen offiziell festgelegten Umtauschkurs, längst aber sind sie Schwarzmarktware geworden. Das hat bereits dazu geführt, dass nur noch diejenigen Syrer, die ein Flugticket vorlegen können, offiziell Syrische Pfund in Dollar tauschen dürfen. Für Ausländer ist das gar nicht mehr möglich.

Nicht nur sind fast alle ausländischen Investitionsprojekte gestoppt worden, auch der Tourismus ist praktisch zum Erliegen gekommen. Das exklusive Hotel Four Seasons in Damaskus, vormals mit einer Auslastung von 80 Prozent, kann jetzt nur noch zehn Prozent seiner Zimmer belegen. Das führte zu Entlassungen der Mitarbeiter, die kaum in anderen Bereichen unterkommen können.

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Der syrische Finanzminister Mohammad al Jleilati äußerte sich laut dem syrischen Magazin „Syria Today“ kürzlich auf einem Treffen der Damaszener Wertpapierbörse: „Die syrische Wirtschaft ist stark, und die Regierung hat nicht weniger als 18 Billionen US-Dollar in ausländischen Währungen zur Verfügung, diese reichen aus, die Importe für zwei Jahre zu decken.“ Ob die Zahlen stimmen, und ob Syrien wirklich in der Lage ist, Importe über diesen Zeitraum zu finanzieren, bleibt zu bezweifeln. Unlängst hat Syrien einen Kredit aus dem Iran erhalten, weitere wurden in Aussicht gestellt. Währenddessen will man neue wirtschaftliche Beziehungen knüpfen, just mit den Ländern, die nach den zweitägigen Verhandlungen vergangene Woche in New York im UN-Sicherheitsrat gegen Sanktionen gestimmt haben: Russland, China und auch dem kleinen Nachbarn Libanon. Doch diese Atempause wird kaum ausreichen, um die schlechte Wirtschaftslage, die hohe Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen, die Armut auf dem Land und die weitverbreitete Korruption einzudämmen. Jene Zustände also, gegen die die Menschen seit März demonstrieren.

Präsident Assad hat vor kurzem gewarnt, dass der Zusammenbruch der Wirtschaft das Gefährlichste sei, was dem Land angesichts der Krise bevorstehen könnte. Die Idee der Regierung ist, die Wirtschaft im Rahmen eines Zehnjahresplans zu reformieren und in eine Sozialmarktwirtschaft zu führen.

Im orangefarbenen Licht der Abendsonne packen zwei junge Männer einen Verletzten unter den Armen. Ein dritter versucht zu helfen. Ihre Bewegungen sind hektisch. Im schnellen Schritt laufen sie auf den zu, der die Szene mit seiner Handykamera filmt, auf einer Autostraße in Hama, vergangene Woche. Schüsse hallen, auf der Straße liegen Steine und Trümmer, der Verletzte scheint bewusstlos, halb ziehen, halb tragen sie ihn. Als die Gewehrsalven stärker werden, legen die drei Männer ihn ab, hocken sich neben ihn, senken die Köpfe.

Es ist der Wunsch jener, die auf die Straße gehen und protestieren, dass sich auch die Mittelschicht des Landes dem Aufstand anschließen möge. Doch diese Mittelschicht, kaufmännisch und eher konservativ, hofft noch immer auf die von Assad versprochenen Reformen. Sie trauen sich nicht einzugreifen, denn sie haben etwas zu verlieren: ihre Geschäfte und Unternehmen in den Städten. Auch deswegen ist es in Damaskus ruhig, scheinen gewalttätige Proteste weit entfernt. Ein anderer Grund sind die in den größeren Städten überall präsenten und tief in die Gesellschaft hinein vernetzten Geheimdienste, die vor allem für Willkür stehen. Viele Taxifahrer sind Spitzel, ebenso Mitarbeiter der Stadtreinigungsbetriebe.

Der UN-Sicherheitsrat in New York verdammt die Gewalt in Syrien. Doch einige in Damaskus sagen: Es muss erst noch viel schlimmer werden, bevor sich etwas ändert im Land. Und noch andere sagen: Der Präsident mag verschwinden, doch das löst nicht unser Problem.

Assad, sagen sie, ist nur noch eine Marionette, verstrickt im mafiösen Filz mit Familienangehörigen, Ministern und Gouverneuren. Sie fürchten, dass die regierende Schicht den Präsidenten beseitigen könnte, nur um den Westen glauben zu machen, das Land habe sich vom Diktator befreit – während sich in Wirklichkeit nichts ändert.

Ein Mann im dunklen Pullover schüttet zwei letzte Schaufeln Erde auf eines der frischen Gräber in Hama. Dann wirft er die Schaufel beiseite, scheppernd fällt sie zu Boden. Dem Grab dreht der Mann den Rücken zu. Langsam geht er davon, ohne sich umzuschauen – aus dem Bild, für dessen Echtheit es keine Bestätigung gibt.

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