zum Hauptinhalt
Kinder vor einer Ruine in Damaskus.

© Carole Alfara

Syrien-Konflikt: "Der Krieg reißt schlimme Wunden in die Seelen der Kinder"

Mehr als eine Million syrische Kinder wegen des Bürgerkriegs in ihrem Land auf der Flucht. Rasha Muhrez, Koordinatorin der Nothilfe von „SOS-Kinderdörfer“ in Syrien, über die Folgen des Konflikts, eine verlorene Generation und Geborgenheit in Zeiten des Krieges.

Die Zahlen sind dramatisch. Und sie werfen ein bedrückendes Schlaglicht auf die Folgen eines blutigen Krieges: Mehr als eine Million syrische Kinder sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) vor dem Konflikt in Anrainerstaaten wie Jordanien oder den Libanon geflohen. Das heißt, jeder zweite Vertriebene ist im Kindesalter.

Der UNHCR-Direktor für internationalen Flüchtlingsschutz, Volker Türk, sagte am Freitag in Genf, seit dem Völkermord in Ruanda 1994 habe es keine vergleichbare Flüchtlingskatastrophe gegeben. Viele Mädchen und Jungen seien traumatisiert. Das zeige sich an Symptomen wie Schlaflosigkeit, Stottern und Bettnässen. „Die Kinder müssen Dinge verarbeiten, mit denen schon Erwachsene größte Schwierigkeiten hätten.“

Hinzu kommt: Schon Siebenjährige müssen offenbar Geld verdienen, damit ihre Familien überleben können – nicht zuletzt, weil die Väter oft in Syrien bleiben. Mütter und Kinder sind somit oft auf sich allein gestellt sind. Doch in Syrien selbst ist die Lage der Kinder oft noch schlimmer. Über die Situation im Bürgerkriegsland sprach Christian Böhme mit Rasha Muhrez. Die 31-Jährige koordiniert von Damaskus aus die Nothilfe der Organisation „SOS-Kinderdörfer weltweit“.

Frau Muhrez, Sie sind gerade aus Damaskus gekommen. Wie ist es, den Krieg zumindest für eine kurze Zeit hinter sich lassen zu können?

Ich ringe mit gegensätzlichen Gefühlen. Einerseits bin ich froh, mal ein paar Tage dem Konflikt entkommen zu sein. Man kann ein wenig durchatmen, fühlt sich sicher, hört keine Bombeneinschläge. Andererseits habe ich Angst um meine Familie und Freunde. Sie sind weiterhin in Damaskus. Und der Alltag dort ist lebensgefährlich.

Rasha Muhrez
Rasha Muhrez koordiniert von Damaskus aus die Nothilfe der Organisation „SOS-Kinderdörfer weltweit“.

© Thilo Rückeis

Können Sie unter diesen Bedingungen überhaupt ihr Büro verlassen?

Eigentlich nicht. Es ist einfach zu riskant. Überall hat die Regierung Checkpoints eingerichtet. Und die werden von den Rebellen beschossen. Man muss Anschläge mit Autobomben fürchten. So kann ein Straßenzug von einem auf den anderen Moment zum Schlachtfeld werden. Deshalb arbeite ich von zu Hause aus, verlasse die Wohnung nur, wenn es unbedingt erforderlich ist. Und nachts überhaupt nicht.

Welche Folgen hat das für die Arbeit von „SOS-Kinderdörfer“?

Die Bedingungen sind sehr schwierig – auf vielen Ebenen. Wir haben immer wieder Probleme mit den Behörden. Der bürokratische Aufwand ist enorm. Man muss ständig reden, reden und wieder reden. Außerdem kommt es vor, dass die lokalen Mitarbeiter nicht zum Dienst erscheinen, weil es einfach zu gefährlich wäre. Auch die Beschaffung von Lebensmitteln ist mühsam. Glücklicherweise gelingt es uns in der Regel dennoch, alles Notwendige zu organisieren.

Ist das SOS-Dorf in Damaskus trotz des Krieges ein Ort der Geborgenheit?

Auf jeden Fall bietet das Dorf den dort lebenden 190 Mädchen und Jungen ausreichend Sicherheit. Die Gegend besitzt keine strategische Bedeutung für die Kämpfer der Konfliktparteien. Die Kinder gehen zur Schule und bekommen ausreichend zu essen. Wir haben sogar eine Art Apotheke mit wichtigen Medikamenten. Und die „SOS-Mütter“ sind geschult, im Notfall erste Hilfe zu leisten.

Ihre Organisation musste vor kurzem das SOS-Kinderdorf in Aleppo aufgeben. Warum?

Ihre Organisation musste vor kurzem das SOS-Kinderdorf in Aleppo aufgeben. Warum?

Die Sicherheitslage machte das unumgänglich. Der Leiter des Dorfes rief mich in den frühen Morgenstunden an und sagte, es habe keinen Sinn mehr, dort weiterzuarbeiten. Die Kinder würden ständig weinen, überall höre man das Dröhnen der Raketen. Mehr als 60 Mädchen und Jungen machten sich mit ihren zehn SOS-Müttern sofort in Bussen auf den Weg Richtung Damaskus. Für die Strecke benötigten sie 12 Stunden, normal sind drei bis vier. Der Konvoi wurde ständig an Checkpoints aufgehalten. Als die Kinder zum Beispiel einen Rebellen-Stützpunkt passieren wollten, schwenkten sie weiße Fahnen. Eine verrückte Situation, wie im Kino.

Wie gehen die Kinder mit der permanenten Gefahr um?

Das kommt ganz auf den jeweiligen Charakter an. Die Jungen legen zumeist großen Wert darauf, stark zu wirken. Sie wollen dann raus aus dem Dorf, um zum Beispiel Fußball zu spielen. Bei einigen geht das soweit, dass sie sagen: Mir ist es egal, ob ich sterbe. Da zeigt sich, wie negativ sich der Krieg auf die Gemüter der Kinder auswirkt. Andere wiederum sind sehr ängstlich, wollen nur im Haus bleiben.

Denken die Kinder unter diesen Umständen über ihre Zukunft nach?

Oh ja! Das tun sie. Und zumeist herrscht ein sehr pessimistischer Blick auf das vor, was kommen könnte. Die Kinder haben keinerlei Perspektive, kaum Hoffnung. Die Fragen lauten dann etwa: Werde ich überhaupt jemals zur Universität gehen? Bekomme ich einen Job? Oder muss ich zum Militär? Davor fürchten sich die Kinder übrigens am meisten.

Viele Hilfsorganisationen warnen inzwischen vor einer "verlorenen Generation" in Syrien. Teilen Sie diese Auffassung?

Ja, man muss es leider so deutlich sagen. Es gibt selbst in der Umgebung von Damaskus Kinder, die schon lange nicht mehr in der Schule waren oder noch nie ein Klassenzimmer gesehen haben. Viele haben ihre Familien verloren, essen nur das, was sie gerade finden. Und ständig diese Gewalt. Das ist kein normales Leben, sondern unmenschlich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie diese Kinder reagieren werden, wenn es irgendwann mal Frieden geben sollte. Der Krieg reißt schlimme Wunden in die Seelen der Kinder. Die grausamen Erinnerungen und Erfahrungen werden sie nicht mehr los.

Die Not in Syrien ist dramatisch. Helfen Sie auch außerhalb des SOS-Kinderdorfes?

Ja. Inzwischen haben wir eine Nothilfe für viele Tausend Bedürftige aufgebaut. Die Menschen bekommen von uns Lebensmittel. Wir verteilen Decken gegen die Kälte und Plastikplanen, damit die Menschen ihre kargen Unterkünfte ohne Dächer oder Fenster vor Wind und Regen schützen können. Zudem haben wir eine Art Kita eingerichtet. Dort können die Vertriebenen ihre Kinder drei Tage pro Woche in unsere Obhut geben.

Zur Startseite