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Syrien: "Massaker beispiellosen Ausmaßes"

Mit gnadenloser Härte geht das syrische Regime gegen Deserteure vor. Insgesamt starben seit Beginn der Unruhen im März bereits mehr als 5000 Menschen. Jetzt fordert die Opposition Schutzzonen.

Die jungen Soldaten wollten nur noch weg. Eine ganze Kompanie Wehrpflichtiger, die in einem Armeecamp zwischen den Dörfern Kafr Oued und Al Fatira in der Provinz Idlib stationiert waren, rannte davon, um sich auf türkisches Gebiet durchzuschlagen. Offenbar wurde ihr Plan verraten, befehlstreue Kameraden nahmen die Fliehenden mit Maschinengewehren unter Feuer. Anschließend durchkämmten sie die umliegenden Felder und Obsthaine, spürten jeden Überlebenden einzeln auf und massakrierten ihn. Stundenlang waren die Schusswechsel zu hören zwischen den sich verzweifelt wehrenden Abtrünnigen und ihren regimetreuen Häschern.

Nahezu 300 Menschen sind in den vergangenen beiden Tagen bei Kämpfen in Syrien ums Leben gekommen, neben den 80 Deserteuren aus Idlib auch mehr als Hundert Zivilisten sowie bewaffnete Rebellen. Frankreichs Regierung spricht von einem „Massaker beispiellosen Ausmaßes“.

Aus der Stadt Homs wurden ebenfalls schwere Kämpfe und Artilleriebeschuss gemeldet, am Mittwochmorgen wurden fünf iranische Ingenieure gekidnappt. Gleichzeitig steigen die Verluste bei der regulären Armee. Allein in den vergangenen drei Tagen sollen Bewaffnete rund zwanzig Militärfahrzeuge angegriffen und zerstört haben, mehrere Dutzend Soldaten verloren dabei ihr Leben. Insgesamt starben seit Beginn der Unruhen im März bereits mehr als 5000 Menschen, darunter nach Angaben des Regimes 1100 Sicherheitskräfte.

Alle ausländischen Beobachter und Aktivistenorganisationen sind sich einig, dass die Gewalt im Land dramatisch zunimmt. Im Norden Syriens, in der gebirgigen Provinz Idlib nahe der türkischen Grenze sowie in der Stadt Homs, haben die Kämpfe inzwischen Züge eines „regelrechten Krieges“, urteilt der bekannte, in Beirut ansässige Aktivist Wissam Tarif. Die Zahl der desertierten Soldaten wird auf mehr als 10 000 geschätzt. Allein in der nördlichen Unruheprovinz operieren 2000 bis 3000 Kämpfer der „Freien Syrischen Armee“. Sie bewegen sich meist auf Motorrädern, verfügen jedoch nur über leichte Waffen wie Kalaschnikows und Pistolen. Wie das Aktivistennetzwerk Avaaz mitteilte, sind inzwischen auch erste Rebellen aus Libyen in der Region eingetroffen, um an der Seite der Regimegegner mitzukämpfen.

Die syrische Opposition fordert die Einrichtung einer „sicheren Zone“ in den Provinzen Idlib und Homs. Diese Zone sollte international geschützt werden, hieß es in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung des Syrischen Nationalrats. Gleichzeitig forderte der Rat, der viele Oppositionsgruppen repräsentiert, der UN-Sicherheitsrat solle das Regime zwingen, seine Truppen aus den belagerten Gebieten abzuziehen. Die Arabische Liga, die Beobachter nach Syrien schicken will, wurde aufgefordert, gemeinsam mit den Vereinten Nationen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu ergreifen.

Während hohe Offiziere und Eliteeinheiten nach wie vor eisern zu Präsident Baschar al Assad und seinem Regime stehen, fliehen Wehrpflichtige und Unteroffiziere offenbar in Scharen. Bisweilen machen sich ganze Einheiten aus dem Staub. Bei den letzten drei Einberufungen haben sich nach Angaben des Syrischen Nationalrates nur noch 50 Prozent aller neuen Wehrpflichtigen gemeldet.

Neuankömmlinge aus denselben Dörfern werden in den Kasernen systematisch getrennt, alle Mobiltelefone konfisziert. Gespräche in Gruppen sind auf dem Gelände verboten. Die Arabische Liga rief kürzlich alle syrischen Soldaten auf, Schießbefehle auf Zivilisten zu verweigern. Inzwischen hat auch Jordanien, nach der Türkei, seine Grenzen für abtrünnige syrische Uniformierte geöffnet.

Am Donnerstag sollen nun die ersten internationalen Beobachter der Arabischen Liga im Land eintreffen, nachdem Damaskus Anfang der Woche nach vier Wochen Hinhaltetaktik dem internationalen Druck schließlich nachgegeben hat. Ende Dezember folgen insgesamt 500 Experten, um sich unter der Leitung des sudanesischen Generals Mohammed Ahmed Mustafa al Dabi erstmals seit neun Monaten ein unabhängiges Bild von der Lage in Syrien zu machen.

Die Gesandten wollen überprüfen, ob das Regime die Zusage umsetzt, die Gewalt gegen seine Bürger zu beenden, alle verhafteten Demonstranten freizulassen, mit der Opposition zu verhandeln und seine Armeeeinheiten aus den Wohngebieten zurückzuziehen. Bisher hat das Regime von Präsident Assad noch keine der angekündigten politischen Reformen ernsthaft in Angriff genommen. Und sollten Panzer und Artillerie tatsächlich aus allen Städten und Dörfern abrücken, wie die Arabische Liga verlangt, könnten dem Regime große Teile des Staatsgebiets bald entgleiten.

Noch am Dienstag hatte der Golf-Kooperationsrat, ein Zusammenschluss der reichen Ölstaaten, Syrien in einer ungewöhnlich scharfen Stellungnahme aufgefordert, seine „Tötungsmaschine“ zu stoppen und das Blutvergießen zu beenden. Das syrische Regime dagegen behauptet weiter unverdrossen, die Unruhen seien durch „bewaffnete terroristische Gruppen“ verursacht, die mit Rückendeckung ausländischer Mächte Syrien destabilisieren wollten.

Nach Angaben der syrischen Nachrichtenagentur Sana begannen Luftwaffe und Luftabwehr am Dienstag mit fünftägigen Manövern, um „jede Aggression“ zurückzuschlagen.

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