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Politik: Tag der deutschen Einheit: Kein Tag ohne Kohl (Leitartikel)

Das Einzige, was die Geschichte uns lehrt, ist, dass sie uns nichts lehrt. Diese pessimistische Einsicht in die Unbelehrbarkeit der Zeitgenossen vor ihrer Vergangenheit kann, ja muss einem einfallen, wenn man erlebt, wie in Deutschland die Feiern zum 3.

Das Einzige, was die Geschichte uns lehrt, ist, dass sie uns nichts lehrt. Diese pessimistische Einsicht in die Unbelehrbarkeit der Zeitgenossen vor ihrer Vergangenheit kann, ja muss einem einfallen, wenn man erlebt, wie in Deutschland die Feiern zum 3. Oktober 2000, zum Dezennium der Wiedervereinigung, im Vorfeld zertrümmert werden.

Versuchen wir uns trotzdem zu erinnern: Der 3. Oktober 1990, eigentlich nur der bürokratische Vollzug der deutschen Einheit, die spätestens seit dem 9. November 1989 ein stürmisch gärender Prozess war, wurde deshalb zum Feiertag der Einheit gewählt, weil der 9. November historisch überschattet war. Da Helmut Kohl in den bewegten und bewegenden Monaten Kanzler war, da er beherzt nach dem Mantel der Geschichte griff, mit kühnem Blick das Fenster sah, das für die Einheit offen war - nur kurzzeitig, wie manche vermuten -, ist der 3. Oktober sein Tag, er füllt ihn kolossal, und ohne ihn wäre dieser Tag seltsam gestalt- und geschichtslos.

Gerade auch und besonders in Dresden, wo Kohl 1989 die psychologisch fast alles entscheidende Rede hielt - durch die die Wiedervereinigung in schnelle und optimistische, weil friedliche Bahnen gelenkt wurde. Soll und darf man ihm das vergessen? Man darf, wenn man es kann, wenn also der 3. Oktober 2000 in Dresden zur Farce mit dem Titel "Epitaph für einen abwesend Grollenden" wird, ähnlich der gnädigen Vergesslichkeit anheim gegeben wie der Sedanstag aus unseligen Zeiten. Oder auch der erinnerungswürdige 17. Juni, der lange vor der Wiedervereinigung zum Ausflugs- und Freibäder-Tag verflachte.

Jedenfalls hat Kohl jetzt die Tür laut und heftig zugeschlagen, vor die man ihn in Dresden setzen wollte. Mag man in dem Akt, Kohl von der Rednerliste zu streichen, nicht nur einen Biedenkopf-Einfall kleinlicher, wenn auch menschlich verständlicher Rache sehen, das späte Revanche-Foul eines lange zu kurz Gekommenen und zu kurz Gehaltenen, dann sieht das Ganze aus wie der Versuch einer historischen Bruch-Rechnung: Kohl ist zwar der Kanzler der Einheit, die wahrscheinlich auch ohne ihn gekommen wäre ("Wir sind ein Volk"), wenn auch nicht so und wahrscheinlich auch nicht so schnell, deshalb sollte er reden. Aber er ist auch Held in dem Schurken- und Schmierenstück der schwarzen Kassen, deshalb muss er schweigen. Eine moralische Milchmädchenrechnung, die alle Lehren der Geschichte in den Wind schlägt.

Denn so viel steht jetzt schon fest: Kohls Schweigen wird beredter sein, als es die Festredner Rau und de Maizière gemeinsam sein könnten. Schon werden jenen, die Kohl den Schuldschein vor die Nase halten, unangenehme Gegenrechnungen aufgemacht. War Rau als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident wirklich ein glühender Befürworter der Berliner Republik? Und war de Maizière wirklich mehr als nur Wachs in der Hand des schwarzen Riesen?

Zumindest für historische Feiern gilt, will man sie denn als Feste feiern, wie sie fallen, dass sie eines bei Strafe der Selbstzerstörung nicht tun dürfen: sich ihres historischen Kerns entkleiden. Ohne Kohl wird dieses Datum, ob uns das schmeckt oder nicht, ein Tag sein, an dem man sich vor allem fragen wird, warum er ohne Kohl stattfindet.

Das ist nicht schlimm, weil die Republik die geplante Entgleisung überleben wird, wie Deutschland auch Kohls moralische Entgleisung überstehen wird - leichter sicher als die Hilflosigkeit angesichts der rechtsradikalen Gewalt. Das ist schlimmer, weil es die Veranstaltung sinnlos, nämlich geschichtslos macht. Immer noch können wir mit Geschichte nicht umgehen: Man stelle sich vor, die Franzosen hätten ähnlich bei de Gaulle oder Mitterrand aufgerechnet. Oder Russland würde Gorbatschow auf seine Vor-Perestroika-Zeit überprüfen, als er dem System diente, das er abschaffte.

Geschichtliche Leistungen und Verdienste sind nicht aberkennbar. Bismarck etwa bleibt der erste Kanzler der Einheit - trotz Kulturkampf und Sozialistengesetzen. Wilhelm II. konnte ihn in die Wüste schicken, aber nicht aus der Geschichte verbannen. Biedenkopf ist kein Wilhelm II., auch wenn er den starken August spielt. Einheitsfeier ist da, wo Kohl ist, und wo er nicht ist, da ist auch keine Feier.

Hellmuth Karasek

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