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Jubel in Tripolis: Dieses Bild entstand vor Gaddafis ehemaliger Machtzentrale.

© Katharina Eglau

Tagesspiegel-Korrespondent: Den Arabischen Frühling hautnah miterlebt

Was wird aus der Revolution in Nahost? Martin Gehlen und Katharina Eglau haben sie als unsere Korrespondenten miterlebt. Und meinen: Die Region ist auf Dauer verändert. Ein persönlicher Bericht aus nächster Nähe.

Etwa zur Hälfte seiner 30 Jahre langen Herrscherzeit gab Hosni Mubarak einmal in einem Interview erstaunliche Einsichten kund. „In einem totalitären Regime weiß man nie, welche Fehler gemacht werden“, sagte er im Jahr 1994. „Anders in einer Demokratie: Wenn jemand etwas verkehrt macht, wenn er etwas gegen den Willen des Volkes tut, kommt das sofort an die Oberfläche. Und die ganze Bevölkerung schaut zu.“

„In einem totalitären Regime weiß man nie, welche Fehler gemacht werden.“ Anders ausgedrückt, die Machthaber wissen nicht, was in ihrem Volk wirklich vor sich geht. So genau wollen sie es auch gar nicht wissen. Werben um die innere Zustimmung der Bevölkerung für politische Entscheidungen, Berücksichtigung der öffentlichen Meinung, Diskussion alternativer Politikideen, Kompromisse mit Gegnern oder gar Kritik an den Herrschenden – das war in den Machtsystemen der arabischen Welt nicht vorgesehen. Diese Ausgrenzung der Bevölkerung vom politischen Geschehen, das war und ist der Kern der jahrzehntelangen politischen Fäulnis im Nahen und Mittleren Osten.

Meine Frau, die Fotografin Katharina Eglau, und ich, wir leben und arbeiten seit mehr als drei Jahren in Kairo. Die Revolution in Ägypten habe ich vom ersten Tag bis zu Mubaraks Sturz am 11. Februar vor Ort miterlebt, Katharina war kurz nach Beginn der Demonstrationen nach Deutschland gefahren und konnte zunächst nicht nach Kairo zurückkehren.

Den Osten Libyens haben wir im Februar direkt nach Beginn des Volksaufstands gegen Gaddafi und ein zweites Mal nach Beginn der Nato-Einsätze gemeinsam bereist. Auch den Fall von Tripolis im August erlebten wir vor Ort mit, zu einem Zeitpunkt, als Gaddafis Eliteeinheiten den Süden der Stadt noch teilweise unter Kontrolle hatten. Anders als bei politischen Reportagen vor Ort, sollen in diesem Text einmal persönliche Erlebnisse und Eindrücke im Vordergrund stehen, die bei der Berichterstattung in der Regel unter den Tisch fallen.

In Ägypten spricht heute jeder von der 25.-Januar-Revolution, obwohl dieser Dienstag ganz unspektakulär begann. Es war schulfrei, die Geschäfte waren geschlossen. Offiziell war sogenannter Feiertag der Polizei. Und wieder einmal hatten Oppositionsgruppen zum Protest aufgerufen, zu einem Tag des Zorns, diesmal beflügelt durch den Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali, der elf Tage zuvor nach Saudi-Arabien geflohen war.

Protestdemonstration in Mubaraks Kairo – das hieß bis dahin: Es erscheinen 300 Unentwegte, schnell umzingelt von 3000 Polizisten. „Crowd Control“ auf Ägyptisch – das ging dann so: Die Polizei schaut ein paar Minuten zu, dann gibt es Prügel im Verhältnis zehn zu eins. Egal ob Einheimischer oder Ausländer, ob Demonstrant oder Journalist, Ägyptens Polizei machte nie viel Federlesens. Nach einer halben Stunde waren die Aufsässigen abgeführt und weggekarrt. Wenn sie Glück hatten, wurden sie einige Nächte später grün und blau geschlagen irgendwo an der sechsspurigen Wüstenautobahn zwischen Kairo und Alexandria wieder ausgesetzt. Und damit war ihnen – so das Kalkül des Mubarak-Regimes – die Lust aufs Demonstrieren ein für allemal ausgetrieben.

Lesen Sie auf Seite 2, was an diesem 25. Januar anders war.

Nun also der 25. Januar. Um 16 Uhr sollte die Demonstration beginnen. Eine dreiviertel Stunde vorher ging ich alleine los zu Fuß in Richtung Tahrir-Platz – mit geringen Erwartungen und mulmiger Angst vor den Schlägerpolizisten. Ereignisse wie in Tunesien, hatte tags zuvor der damalige Außenminister Ägyptens noch gedroht, werde es am Nil definitiv nicht geben. Einen Vergleich seines Landes mit Tunesien nannte er „baren Unsinn“ und „Fantasterei“.

Plötzlich aber kam eine erste Protestkolonne um die Ecke, einige hundert Leute, dann auch aus anderen Himmelsrichtungen. Ein Zug Studenten von der Kairo-Universität hatte sich einen Weg über die alte Qasr-el-Nilbrücke zum Tahrir-Platz gebahnt. Und im Nu war ich mitten im Gewühl. Ein junger Mann ist mir besonders in Erinnerung geblieben, er hatte seine Großmutter untergehakt, die sich – total perplex und neugierig – ständig nach allen Seiten umschaute. Sie war definitiv das erste Mal in ihrem Leben demonstrieren. Auf meinem Handy befindet sich von diesem 25. Januar noch eine SMS an Katharina von 16 Uhr 56, die ich neulich beinahe gelöscht hätte. Der Text lautet: „Komm zum Tahrir, es ist der Wahnsinn, das Ende Mubaraks.“

Trotzdem blieben mir an diesem Abend Zweifel, genauso wie sicher auch vielen Ägyptern. Vielleicht 5000, vielleicht auch 10000 Demonstranten hatten es bis auf den berühmten Platz mit dem Kreisverkehr geschafft. Ab und zu flogen Tränengasgranaten, im Ganzen aber hielt sich die Polizei auffallend zurück. Unter den Demonstranten löste das Euphorie aus. „Dies ist nur der Anfang – jetzt wird das Volk nicht mehr zu stoppen sein“, sagte mir ein junger Apotheker. „Endlich haben die Ägypter die Barriere der Angst durchbrochen. Wir werden es schaffen, wir gehen hier nicht mehr weg, bis Mubarak gestürzt ist.“

Morgens früh um zwei Uhr war dann Schluss. Mit Tränengas und Schlagstöcken wurden die Leute innerhalb einer Viertelstunde in alle Himmelsrichtungen davongejagt. Wie es schien, war damit auch dieses Aufbegehren – wenn auch größer als je zuvor – aus und vorbei.

Meine Überzeugung, dass Mubarak tatsächlich am Ende ist, wurde erst drei Tage später zur Gewissheit – am 28. Januar, einem Freitag, dem Sonntag in der islamischen Welt. Der Tag begann journalistisch mit einem Super-Gau. Morgens schaltete ich den Computer an, das Internet war gekappt. Das Handy ging auch nicht, nur noch die Festnetzleitung. So etwas hatte bisher im Internetzeitalter noch nie ein Staat der Erde gemacht, Tunesien nicht und selbst der Iran nicht auf dem Höhepunkt der grünen Massenproteste im Sommer 2009. Man bekommt keinerlei Nachrichten mehr, kann seine Texte nicht versenden, ist vollkommen von der Welt abgeschnitten. Auch alle Facebook-Aktivisten tappten im Dunkeln, konnten sich nicht mehr koordinieren. In meinem Falle hatte ich Glück. Der Kollege der Süddeutschen Zeitung besitzt einen Satellitenempfänger fürs Internet. Und da er auf dem kleinen Balkon seiner Wohnung kein Signal bekommen konnte, kam er gleich am Morgen zu mir in die Wohnung. Wir haben den Satellitenempfänger auf meiner Terrasse aufgestellt und fortan gemeinsam benutzt. Zweite wichtige Quelle war das Fernsehen, vor allem Al Dschasira, aber auch die BBC – und natürlich das ägyptische Staatsfernsehen mit seiner heilen Gegenwelt.

Daraus entwickelte sich dann unter meinem Dach für die nächsten 14 Tage bis zu Mubaraks Sturz eine Art „revolutionärer Wohngemeinschaft“. Wir haben zusammen gewohnt und gearbeitet, die Tage der schlimmsten Gewalt gemeinsam überstanden – und hatten am Ende für drei Jahre Zwieback im Haus.

Lesen Sie auf Seite 3, wie Martin Gehlen die entscheidende Explosion der Wut erlebte.

Den für mich entscheidenden Moment auf der Straße erlebte ich an jenem Freitagmittag, also genau zwei Wochen vor Mubaraks Sturz, vor der Mustafa-Mahmoud-Moschee im Stadtteil Mohandessin. Als wir dort ankamen, hockten die Menschen mit gesenkten Köpfen auf dem Bürgersteig vor der Moschee und auf den Rasenflächen des angrenzenden Platzes, der von Hochhäusern gesäumt ist. Um alle Beter herum hatte die schwarze Sonderpolizei mit martialischer Pose einen lückenlosen, schwarzen Kordon gezogen. Und die Minuten vergingen wie im Stundentakt. Kaum aber war das letzte „Allahu Akbar“ des Freitagsgebets aus den Lautsprechern verklungen, waren alle mit einem Schlag auf den Beinen. Es war wie eine Explosion der Wut. „Weg mit dem Regime“ und „Hau ab, Mubarak“, skandierte die Menge von einer zur anderen Sekunde. Im Nu waren die Kordons der Polizisten durchbrochen, laut fluchend herrschten die Offiziere ihre übertölpelten Mannschaften an.

Doch da hatte sich der tausendköpfige Menschenzug bereits in Bewegung gesetzt. Autos hupten, ihre Fahrer grüßten mit „Victory“ und die Menge antwortete mit „Freiheit, Freiheit“. Erleichterung stand in den Gesichtern, aber auch Überraschung über sich selbst, als der Marschzug an der nächsten Ecke abbog in Richtung Nil. „Kommt mit, kommt mit“, skandierten die Menschen und versuchten, die vielen Schaulustigen von den Balkonen herunterzuwinken. Mit Erfolg. Immer mehr ließen sich mitreißen. Am Ende waren es Hunderttausende, die in Kairo und Alexandria, in den Städten im Delta und Oberägypten auf den Straßen waren.

Es war der Beginn eines Volksaufstandes, wie es ihn noch nie in der Geschichte des Landes gegeben hatte. Stundenlang wogte die Schlacht zwischen Polizei und Demonstranten auf den von den Sicherheitskräften total blockierten Nilbrücken hin und her. Wir wohnen etwa fünf Minuten vom Nil entfernt. Während wir am frühen Nachmittag die Andruckfassungen für unsere Zeitungen schrieben, schallten vom Nil her abwechselnd die Angstschreie und Jubelrufe der Demonstranten herüber. Nach acht Stunden Vor und Zurück hatten die Demonstranten am Abend schließlich den Tahrir-Platz erobert – und sollten ihn bis Mubaraks Sturz nicht mehr hergeben.

Dann begann die Nacht der blanken Gewalt. Meterhoch schlugen die Flammen aus dem Hauptquartier von Mubaraks Regierungspartei am Nil in den Nachthimmel. Verzweifelt versuchte die Feuerwehr, ein Übergreifen des Großbrandes auf das weltberühmte Ägyptische Museum zu verhindern. 150 Menschen wurden an diesem Tag erschossen oder von Polizeiautos gezielt überfahren, rund 2000 Menschen verletzt, mindestens 60 Polizeistationen gingen in Flammen auf. Das Ägyptische Museum wurde teilweise geplündert. Am Abend und in den nächsten Tagen entkamen 24 000 Kriminelle aus den Gefängnissen. Und mit einem Schlag, wie von Geisterhand, waren plötzlich alle Polizisten von den Straßen verschwunden.

Lesen Sie auf Seite 4, was Martin Gehlen für die Zukunft Ägyptens erhofft.

Das war also die Botschaft Mubaraks an sein Volk: Ihr könnt wählen, entweder ich oder Chaos. Die ganze Nacht über wurde geplündert und geschossen. Selbst auf dem Gelände der renommierten Nasser-Offiziersakademie in Dokki, direkt gegenüber unserem Wohnhaus, versuchten Gangster während der Nacht sechs Mal, an das Waffendepot heranzukommen, zum Glück vergeblich. Wir selbst waren wegen der wilden Tumulte vor unserer Haustür bis um drei Uhr früh auf den Beinen.

Inzwischen sind die dramatischen Ereignisse acht Monate her. Und die revolutionäre Euphorie ist einem mittelschweren Kater gewichen. Egal, wen man heute in Kairo zu den drängendsten Problemen Ägyptens fragt, man erhält stets drei Antworten – und zwar in dieser Reihenfolge: Innere Sicherheit – religiös motivierte Gewalt – Niedergang der Wirtschaft.

Ich will mich hier vor allem auf den Aspekt der inneren Sicherheit konzentrieren: Die Verhältnisse in Ägypten zeigen inzwischen Züge von Anarchie: Wohnungseinbrüche und Autodiebstähle, illegale Hausbauten, Überfälle und Entführungen und Schutzgelderpressungen. Kairo war eine ausgesprochen sichere Stadt, ist es im Großen und Ganzen immer noch. Doch man muss jetzt mehr aufpassen. Viel mehr Menschen sind bewaffnet, nicht nur mit Messern wie früher, sondern auch mit Pistolen und Elektroschockern. Die Touristen meiden Ägypten aus Angst. Und die Auslandsinvestitionen sind nach 12 Milliarden Dollar im Jahr 2010 auf unter eine halbe Milliarde im Jahr 2011 gesunken.

Die größte Gefahr ist, dass diese kriminelle Gewalt bei den am 28. November geplanten ersten demokratischen Parlamentswahlen umschlägt in politische Gewalt. Der nächste Präsident nach Hosni Mubarak soll erst Ende 2012 gewählt werden, nachdem eine neue Verfassung seine genauen Machtbefugnisse definiert hat. Eine sehr lange Zeit für den Übergang von der Militärherrschaft zur zivilen Macht, in der noch viel passieren kann. Und in der Ägypten seinen Start in eine demokratische Zukunft auch gründlich verpatzen könnte.

Trotzdem: Ich bin optimistisch für die Menschen nicht nur in Ägypten, sondern in der ganzen arabischen Welt. Sie haben erreicht, dass die Ära eiserner Fäuste und gottgleicher Despoten in ihrer Region vor dem Ende steht, auch wenn sich Syriens Baschar al Assad und Jemens Ali Abdullah Saleh weiter an ihre Macht klammern. Je länger die euphorischen Tage der Revolutionen zurückliegen, desto klarer wird den neuen arabischen Bürgern, wie jahrzehntelang, mühsam und anstrengend der Weg in offene, liberale Gesellschaften noch werden wird. Doch die Chancen waren noch nie so groß wie heute. Und die Sehnsucht nach Freiheit, Würde und Selbstbestimmung wird am Ende siegen.

Dieser Text ist eine gekürzte Fassung eines Vortrags von Martin Gehlen und Katharina Eglau im Salon des Tagesspiegels und im Berliner Canisius-Kolleg.

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