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Tempolimit: Das Ende der Raserei - durch Elektromobilität

Das Herz Vieler schlägt für das, was dieses Land unterscheidet von allen anderen: Autobahnen ohne Tempolimits. Doch nun könnte die Elektromobilität bisher Undenkbares mit sich bringen: das Ende der Raserei.

Es ist eine Aufgabe ohne erzieherische Wirkung, die die Polizeibeamten Buschmann und Jung vor sich haben, als sie an diesem Morgen in ihrem silbernen BMW auf die A 9 bei Dessau rollen. Geschwindigkeitskontrolle im zivilen Verfolgungsfahrzeug. Das Motorengeräusch dringt leise ins Innere, das Kontrollgerät piept. Mit den anderen Wagen rauschen sie auf eine Tempo-120-Zone zu, und dann dauert es nicht mehr lange, da haben sie die ersten Fahrzeuge zum Halten auf den Standstreifen gelotst.

Ein Geschäftsmann, silberfarbener VW Passat, 171 km/h, Fahrerlaubnisentzug für einen Monat, 150 Euro Strafe und vier Punkte in Flensburg. Eine Frau im Mercedes Coupé. Tempo 140. Sie kommt mit einer Belehrung davon. Dann blitzen sie einen Opel mit 139 Stundenkilometern im 100er-Abschnitt und 90, wo nur 60 erlaubt waren. Am Steuer sitzt eine junge Frau, Mitte 20, die ärgert sich. „Ich habe die im Rückspiegel gesehen und dachte mir, ja Mensch, schöner BMW“, sagt sie. Es werde zwar viel erzählt, von Zivilfahrzeugen, die Raser jagen, aber ihr sei das noch nicht passiert. Sie sagt: „Ich wurde sonst immer mit Standblitzern geblitzt“ und lacht. Sonst immer.

Buschmann und Jung sagen, sie hätten schon Fahrer mit 210 km/h in der 120er-Zone geblitzt, die Regel sei 160, 170. Und darauf, dass ein Raser mal ein schlechtes Gewissen hat, müssen Buschmann und Jung nicht warten. Schnellfahren gehört in einem Land, dessen Automobilisierung vom Rennsport vorangetrieben wurde, dessen Radiostationen „Flitzerblitzer“ melden und in dem die Tempomessgeräte „Radarfallen“ heißen, mit zum Identitätsstiftenden: Entsprechend betreffen Jahr um Jahr im Schnitt fast zwei Drittel der beim Bundeskraftfahrtamt in Flensburg registrierten Verkehrsvergehen überschrittene Höchstgeschwindigkeiten. Und das Herz vieler Menschen schlägt für das, was das Land verkehrstechnisch unterscheidet von allen Nachbarn, von überhaupt allen Ländern auf der Welt: für Autobahnen ohne Tempolimits.

Doch nun schleicht mit möglicherweise bahnbrechenden Folgen die Elektromobilität heran. Im Jahr 2020 sollen, das ist die Vorstellung der Bundesregierung, eine Million Elektroautos in Deutschland unterwegs sein. Derzeit sind es 2300. Milliarden Euros werden von Staats wegen dafür ausgegeben, die Entwicklung, scheint es, ist nicht mehr zu stoppen.

Die SPD brachte flugs ein Konzeptpapier hervor, in dem sie ein Tempolimit von 130 km/h für die Autobahnen ankündigt, das spare nicht nur Kraftstoff, auch sei dann die Konstruktion weniger stark motorisierter und insgesamt leichterer Fahrzeuge möglich.

Denn Tatsache ist, dass Elektroautos es bisher schwer haben, sehr lange sehr schnell zu fahren, und so kommt ein neuer Begriff in die Diskussion: Harmonisierung der Geschwindigkeiten. Harmonisierte Geschwindigkeiten, also Tempolimits, würden die Marktchancen von Elektroautos verbessern. Und so könnten die mit sich bringen, was bisher keine Treibstoffknappheit und auch kein wachsendes Umweltbewusstsein vermochte: Sie könnten das Ende der Raserei bedeuten. Das bisher Undenkbare.

Im Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie nennt der Philosoph und Wissenschaftler Professor Karl Otto Schallaböck die Freie-Fahrt-Manie eine „absolute Besonderheit“ und vergleicht die mit dem Recht der Amerikaner, eine Waffe zu besitzen. Und wenn sich die Deutschen auch gerne über die Amerikaner und ihre Flinten erregen, so erregen sie sich nicht weniger, wenn man ihnen flächendeckend Temposchilder an die Highways stellen will.

Doch Schallaböck, Jahrgang 1948, ein Österreicher mit wildem grauweißen Haar und Ansätzen zum Rauschebart, predigt genau diese Art Beschränkung, seit er sich in den 80er Jahren mit Zukunftsenergie und Mobilität zu befassen begann. Er erzählt davon in Talkshows und auf Tagungen, beispielsweise auf einem Mobilitätskongress im Oktober 2010 in Bad Herrenalb, wo er sagte, dass die Klimafrage sich allein mit weniger fahren und mit langsamer fahren lösen lasse.

Die zugrundeliegende Faustformel heißt: Tempo 100 – Verbrauch 10 Liter. Tempo 150 – Verbrauch 15 Liter. Tempo 200 – Verbrauch 30 Liter. Tempolimits könnten also eine Menge Kohlendioxid sparen, Öl sowieso. Aber in Deutschland, das sich international gern als Vorreiter des Klimaschutzes darstellt, scheitern die politischen Anläufe zur Selbstbeschränkung immer wieder.

Vielleicht, weil man dazu quasi alle Räder einer Geschichte zurückdrehen müsste, die sich bisher unentwegt im Vorwärtsgang befand.

Einer Geschichte, die vor 125 Jahren losging mit einer Probefahrt durch Mannheim. Im Deutschen Museum München hat man die Mannheimer Presse von damals ausgewertet. Die schrieb nach der Erstfahrt von Carl Benz in seinem „Motorwagen“ am 3. Juli 1886 in weiser Voraussicht: „Wir glauben, dass dieses Fuhrwerk eine gute Zukunft haben wird, weil dasselbe ohne viel Umstände in Gebrauch gesetzt werden kann und weil es bei möglichster Schnelligkeit das billigste Beförderungsmittel für Geschäftsreisende eventuell auch für Touristen werden wird.“ Der Patentbesitzer Carl Benz war weniger zuversichtlich. Ihn grämte, dass sich zwar alle Welt über seine Erfindung jauchzend äußerte, aber ein Käufer „sich nirgends im deutschen Vaterlande“ finde.

Das sollte sich mit einem Berliner Bauwerk ändern, das 1909 in Angriff genommen wurde: mit der Automobil-Verkehrs-und Übungsstraße, kurz: Avus, die weltweit erste „Nur-Autostraße“.

Autobahn. Ein deutsches Wort. Russisch Awtoban, englisch autobahn, japanisch autobán. Dagegen das Wort Tempolimit. Latein als Sprache der Gesetze, der Gebote. Der Limes steckt da drin, die Grenze, der Zwang.

Allerdings, auch das gehört zur Wahrheit, gab es vor der Avus bereits das Tempolimit. Verfügt nach den ersten Unfällen mit den neuen Automobilen im Jahr 1901 von der Stadt Berlin: „Die Geschwindigkeit der Fahrt“, hieß es da, „darf bei Dunkelheit oder in städtisch angebauten Straßen das Zeitmaß eines im gestreckten Trab befindlichen Pferdes nicht überschreiten.“

1925 wurde im Deutschen Reich das Limit heraufgesetzt: In Ortschaften von 15 Kilometer je Stunde Pferdetrab auf 25, außerhalb galt die Forderung nach „Angemessenheit“. Die Automobile jener Epoche erreichten ohnehin kaum 80 Sachen. Und Autobesitz war noch lange kein Massenphänomen. Mitte der 20er Jahre fuhren in Deutschland 250 000 Autos. Heute sind es 50 Millionen. Und die brachten neben Kohlendioxidemissionen noch ein zweites Problem: den Bedarf an Straßen.

In den 1930er Jahren schnellte die Zahl der Verkehrstoten in die Höhe – auf 8000 im Jahr. Wehrwirtschaftliche Erwägungen, so heißt es im Amtsdeutsch, führen 1939 zu rigiden Geschwindigkeitsbeschränkungen. Tempo 40 innerorts, Tempo 60 außerorts, auch auf den ersten fertig gestellten Autobahnen. Die Nazis wollten Kraftstoff sparen – und die jungen Männer in die Schlachten schicken, statt sie auf den „Straßen des Führers“ sterben zu lassen. Die Tempolimits der Kriegszeit galten noch in den frühen Jahren der Bundesrepublik. Doch die Autoindustrie drängte auf Freigabe. Sie argumentierte, die leistungsstarken deutschen Motoren müssten zeigen dürfen, was sie können. Außerdem fiel es leicht, gegen Nazigesetze zu sein. 1953 wurden die Tempolimits aufgehoben.

Es folgte, was der französische Philosoph Paul Virilio „Dromokratie“ nannte: die Herrschaft der Geschwindigkeit. Die hatte neben dem realen Zweck der möglichst raschen Durchmessung von Raum noch eine metaphysische Bedeutung: Sie gab den als Soldatengeneration moralisch und machtmäßig zurückgedrängten klassischen Macho-Männern eine Möglichkeit zur Hand, sich wiederum in die angestammten Positionen zu begeben. Durch Besitz eines Autos, dessen Größe, dessen Hubraum, Beschleunigung, Spitzengeschwindigkeit.

In den 60er und 70er Jahren dann sorgten Industrie und Politik für eine Infrastruktur, die dem Auto den Vorrang gab, und blieben darin unwidersprochen, bis das Waldsterben kam. An die Stelle des alten ADAC-Slogans von der freien Fahrt für die freien Bürger rückte der Spruch „100 dem Wald zuliebe“. 1984 ergab ein von der Kohl-Regierung in Auftrag gegebener „Großversuch Tempolimit“, dass eine Mehrheit der Bundesbürger für Tempolimits auf den Autobahnen ist, um die heimische Flora zu retten. Doch wurden die Ergebnisse des Versuches von der Industrie so interpretiert, dass statt Tempo 100 mit ein paar Jahren Verzögerung der Katalysator kam, eine technische Lösung, an der sich – im Gegensatz zum Tempolimit – verdienen ließ. Bis heute sind 60 Prozent der deutschen Autobahnkilometer tempolimitfrei.

Joachim Radkau, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld, verweist noch auf einen anderen Zusammenhang: auf die Zweckbindung der Mineralölsteuer für den Straßenbau, die um 1960 beschlossen wurde. Damit sei ein „permanenter Zwang zum Ausbau des Straßennetzes installiert worden“. Auf immer neuen Straßen fuhren immer neue Autos, was zu immer mehr Mineralölsteuereinnahmen führte, womit immer neue Straßen gebaut wurden. Nach dem Mauerfall erlebte die Straßenbauwirtschaft einen immensen Schub: Neubau von Ostseeautobahn, Südharzautobahn, Thüringerwald-Autobahn, Verlängerung der A14 Halle–Magdeburg, Ausbau der A2 Berlin–Hannover und der A9 Berlin–München. Die Baukosten pro Kilometer werden auf zehn bis 25 Millionen Euro geschätzt. 15 Milliarden Euro haben die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit bisher gekostet. Das deutsche Autobahnnetz umfasst inzwischen mehr als 12 000 Kilometer. Und es wird noch weiter gebaut.

Ein Frühlingsmorgen im Saaletal, ein paar Kilometer nördlich von Halle. Nebel wabert durch die Flussaue, die kargen Hänge oberhalb schimmern im ersten Licht des Tages, Vögel zwitschern. Sebastian Voigt ist Biologe und hat kein Auto. Sein Job im Moment: mühsame, vom Staat bezahlte Landschaftspflege. Voigt bringt für den Naturschutzbund eine kleine Schafherde von einer Streuobstwiese zur anderen. Davon lebt er. Und dafür, dass eine Landschaft erhalten bleibt, die einer neuen Autobahn geopfert werden soll: die Porphyrkuppenlandschaft des Unteren Saaletals. Rotes Gestein ragt hier in Form von kleinen Hügeln aus den Feldern, vulkanische Relikte, auf denen sich eine spezielle Vegetation hält.

Für den Naturschutzbund hat Voigt 2007 eine Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht gewonnen, gegen die bestehende Planung. Ein wichtiger, bundesweit beachteter Teilerfolg, errungen nach 15-jährigem Kampf. Zufrieden ist er aber nicht. Ihm sei es darum gegangen, zu verhindern, dass die neue Autobahn an der falschen Stelle gebaut werde, in einer der letzten naturnahen Landschaften der Region. Die solle man in Ruhe lassen, das sei die Meinung von Vielen hier. Doch am Verlauf der Strecke hat das Gerichtsverfahren nichts geändert. Man habe sich, sagt Voigt, „im Grunde genommen nur neue Ausgleichsmaßnahmen ausgedacht“.

A143 heißt das umstrittene, zwölf Kilometer lange Stück. Die Trasse würde die A38 Halle–Göttingen mit der A14 Halle-Magdeburg verbinden. Ein Lückenschluss, argumentieren die Befürworter, er würde die Stadt Halle weiter vom Verkehr entlasten. Zugleich wird betont, dass die Autobahn mehr Touristen in die Stadt bringen würde. Und dann kommt wie immer das Argument mit den Arbeitsplätzen. Voigt hat sich die neuen Planungen für die A143 angesehen, die neuen Ausgleichsmaßnahmen, die mit seinem Anliegen, mit seinem Wunsch nach Nicht-Zerstörung der Porphyrkuppenlandschaft nichts zu tun haben.

Falls die A143 gebaut wird, wäre die Stadt Halle von Autobahnen umschlossen. Die letzte ruhige, unverbaute Gegend im näheren Umfeld verlöre ihren Wert. Dann bleibt für die Städter nur, sich an die Halbwüsten mit Asphaltstreifen zu gewöhnen – oder sich für den Sonntagsspaziergang noch weiter fort zu bewegen. Die Autobahnen dafür sind vorhanden. Und die Fahrzeuge auch. Nur der Sprit wird immer teurer.

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