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Seit Mitte April gehen in Abuja fast täglich Frauen auf die Straße, um an das Schicksal der noch immer 211 Mädchen zu erinnern, die von Boko Haram aus ihrer Schule in Chibok im Nordosten Nigerias verschleppt worden sind. Die Bewegung #BringBackOurGirls ist von der Regierung kriminalisiert worden, ihre Demonstrationen werden verboten, und einige der Frauen wurden zeitweise verhaftet.

© Reuters

Terror der Boko Haram in Nigeria: Seit 123 Tagen verschwunden

In Abuja halten Frauen die Erinnerung an entführte Mädchen lebendig – und Boko Haram entführt diesmal fast 100 junge Männer. Derweil denkt die politische Klasse schon seit Monaten nur noch an die Wahl im Frühjahr 2015.

Derzeit reden alle in Nigeria vor allem über ein Thema: Ebola. Seit ein amerikanisch-liberianischer Geschäftsmann das Virus aus Liberia nach Lagos gebracht hat, wächst die Angst vor einer Ansteckung. Bisher hat Nigeria die Lage offenbar noch im Griff. Elf Menschen haben sich angesteckt, von denen vier, einschließlich des Geschäftsmanns, gestorben sind. Doch das ist nicht das einzige Problem des Landes. Allein im ersten Halbjahr sind mehr als 3000 Menschen den Attentaten der islamistischen Terrorsekte Boko Haram oder dem Anti-Terroreinsatz der Armee zum Opfer gefallen.

Am Freitag haben Aktivisten der Bewegung #BringBackOurGirls (Bringt unsere Mädchen zurück) in der Hauptstadt Abuja mit einer Demonstration daran erinnert, dass es inzwischen 123 Tage her ist, seit Boko Haram 276 Mädchen aus einer Schule in Chibok im nordöstlichen Bundesstaat Borno entführte. 211 Mädchen sind weiter verschwunden, 65 konnten sich selbst befreien. Am vergangenen Sonntag hat Boko Haram wieder zugeschlagen, wie am Freitag erst bekannt wurde. Nach Augenzeugenberichten hat die Terrortruppe dutzende junge Männer entführt. Da die Gegend kaum Mobilfunkabdeckung hat, dauerte es Tage, bis die Nachricht nach außen drang. Überlebende, denen die Flucht in die Regionalhauptstadt Maiduguri gelang, berichten nun Einzelheiten.

Verschleppt in den Tschad

Die Augenzeugin Halima Alhaji Adam aus dem Dorf Doron Baga sagte, die Einwohner hätten die Angreifer für Soldaten gehalten. Dann hätten die Kämpfer zu schießen begonnen und Häuser in Brand gesteckt. Demnach zwangen die Kämpfer rund hundert junge Männer im Alter zwischen 15 und 30 Jahren in Motorboote und nahmen sie mit über den Tschadsee in den Tschad. Die Einwohnerin Fatima Suleiman ergänzte, die Dorfbewohner fürchteten, dass Boko Haram die Entführungsopfer als „Fußsoldaten“ einsetzen könnte. Der Kommandeur der Bürgerwehr, Mohammed Gava, sagte, auch Mädchen und Frauen seien verschleppt worden.

In der Region ist eine multinationale Truppe aus Nigeria, Tschad und Niger im Einsatz. Sie soll Schmuggel bekämpfen. Laut Augenzeugen wurden nach dem Angriff Soldaten dieser Truppe in die Dörfer entsandt. Als am Mittwoch Boko-Haram- Kämpfer zurückkehrten, kam es demnach zu Gefechten mit den Soldaten. Suleiman sagte, den Armeeeinheiten sei es gelungen, 20 Geiseln zu befreien. Die Armee gab keinen Kommentar.

Soldatenfrauen protestieren gegen Anti-Terroreinsatz

Erst in der vergangenen Woche hat Boko Haram einige Dörfer in Borno und die Stadt Gwoza eingenommen. Dabei sind mindestens 100 Menschen getötet worden. Die nigerianische Armee kündigte an, die Stadt zurückerobern zu wollen. Beim ersten Versuch sind mindestens 30 Soldaten umgekommen und nach Armeeangaben auch 50 Terroristen. Seit Anfang der Woche sind mehrfach Frauen und Kinder von nigerianischen Soldaten auf die Straße gegangen, um dagegen zu protestieren, dass ihre Ehemänner und Väter gegen Boko Haram kämpfen sollen. Der amerikanische Auslandssender „Voice of America“ zitiert in einem ausführlichen Dossier über Boko Haram einen nicht namentlich genannten Soldaten, der sagt: „Wenn wir auf Boko-Haram-Patrouille gehen, bekommen wir nur 30 Kugeln Munition.“ Auch die Frauen beklagen, dass ihre Männer für den Kampf gegen die Terroristen zu schlecht ausgerüstet seien.

Amnesty wirft Armee ein Massaker vor

Amnesty International wirft der Armee im Anti-Terror-Kampf jedoch auch schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Demnach habe die Armee im März mehr als 100 Gefangene in den Giwa-Kasernen getötet, ohne dass ihnen etwas Konkretes vorgeworfen worden sei. Die Praxis, Angehörige von Boko-Haram- Kämpfern in Sippenhaft zu nehmen, hat den Konflikt weiter verschärft. Der Chef der Truppe, Abubakar Shekau, hatte der Regierung einen Gefangenenaustausch angeboten: die entführten Schülerinnen aus Chibok gegen inhaftierte Frauen und Kinder der Kämpfer.

Seit Juni setzt Boko Haram Frauen bei Selbstmordanschlägen ein. Ende Juli haben sich vier junge Frauen in der zweitgrößten Stadt des Landes, Kano, in die Luft gesprengt, zwei auf dem Universitätscampus, eine in einem Einkaufszentrum und die vierte in der Warteschlange einer Tankstelle, wo Frauen für Kerosin für Kerosinlampen anstanden. Dass es sich bei den Selbstmordattentäterinnen um einige der entführten Mädchen handelt, wie in den Medien spekuliert worden war, hat sich nicht bestätigt. Die Armee spricht davon, Boko Haram habe einen Frauenflügel gebildet.

Die politische Klasse ist im Wahlkampf

Obwohl seit dem Biafrakrieg kein Jahr so gewalttätig war wie dieses, beschäftigt sich die politische Klasse des Landes schon seit einem guten Jahr fast ausschließlich mit der kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahl, die im Frühjahr 2015 bevorsteht. In einer interaktiven Karte stellt der amerikanische Thinktank CFR die politische Gewalt seit Mai 2011 dar. Bis zum 31. Juli hat der CFR 23 186 Tote dokumentiert. Die Vereinten Nationen berichteten in dieser Woche von rund 400 000 Menschen, die auf der Flucht vor der Gewalt sind. (mit AFP)

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