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Ein belgischer Soldat bei Autokontrollen in Brüssel.

© REUTERS

Terrorismus-Experte Guido Steinberg: "Alle wollen nachweisen, dass sie terroristischer Marktführer sind"

Terrorismus-Experte Guido Steinberg über deutsche Fehler bei der Ausreise von Dschihadisten, die Schwächen der EU und das Interesse des "Islamischen Staats" an hochgiftigen Kampfstoffen. Ein Interview.

Von Frank Jansen

Herr Steinberg, schwere Anschläge in Paris, Istanbul, Brüssel und jetzt im pakistanischen Lahore – ist der islamistische Terror nicht zu stoppen?

Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, das uns in Europa und darüber hinaus noch viele Jahre beschäftigen wird. Die Dschihadisten sind eine so starke Bewegung, dass es sehr lange dauern dürfte, um überhaupt die Zahl der Anschläge zu reduzieren.

Ist zumindest für Paris und Brüssel die Anschlagsgefahr nach den Razzien und Festnahmen erstmal gebannt?

Nein. Die Anschlagsgefahr in Frankreich und Belgien wird von zwei Faktoren bestimmt. Aus beiden Ländern stammt eine hohe Zahl von Syrien-Kämpfern und der IS hat die strategische Entscheidung getroffen, Frankreich und Belgien anzugreifen. Daran ändert sich nichts, auch wenn das für Anschläge verfügbare Personal durch die Selbstmordattentate und Verhaftungen reduziert sein dürfte. Das spricht für eine kurzfristige Entspannung der Lage, mehr nicht.

Welche Terrororganisation ist aus Ihrer Sicht derzeit am gefährlichsten?

Für Europa ist derzeit der IS mit Abstand am gefährlichsten. Fast alle europäischen Dschihadisten, die zum Kämpfen ins Ausland gehen, landen beim IS oder sind bereits da. Außerdem schickt der IS trainierte Dschihadisten zurück, um in Europa Strukturen aufzubauen und Anschläge zu begehen. Darüber darf man jedoch Al Qaida nicht vergessen. Die Organisation ist immer noch stark im Jemen, auch in Syrien und in Nordafrika. Und sie hat im Januar 2015 mit dem Angriff in Paris auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“  gezeigt,  dass Al Qaida in der Lage ist, in Europa zuzuschlagen.

Sind die von Anschlägen getroffenen Länder das Opfer eines Wettlaufs zwischen Al Qaida, IS, Taliban und anderen Terrororganisationen?

Es ist eine deutliche Konkurrenz der Organisationen um öffentliche Aufmerksamkeit zu erkennen. Alle wollen nachweisen, dass sie der terroristische Marktführer sind. Die Organisationen befinden sich in einem Wettlauf um Rekruten und Geld. Nur wer erfolgreiche Anschläge verübt, kann darauf hoffen, sich gegen die Konkurrenz zu behaupten.

Nimmt die vom IS ausgehende Anschlagsgefahr angesichts seiner militärischen Niederlagen in Syrien und Irak bald ab – oder sogar noch zu?

Mein Eindruck ist, dass der unter Druck stehende IS nun in Europa und der Türkei noch aggressiver wird. Der Anschlag vom Januar in Istanbul, bei dem zwölf deutsche Touristen starben, ist da ein Beispiel. Der IS verliert in Syrien und Irak an Boden und vor allem auch an Kämpfern. Seit der Schlacht um die kurdische Stadt Kobane im Spätsommer 2014 hat die Terrormiliz mehr als 10 000 Dschihadisten eingebüßt. Und es sind seitdem Dutzende Führungspersönlichkeiten getötet worden. Der IS reagiert darauf mit vermehrten Anschlägen in Syrien und Irak, vor allem mit Autobomben, und Angriffen in Europa und der Türkei. Die Entscheidung, in Europa anzugreifen, hat die Organisation allerdings schon vor Beginn der Luftangriffe der Amerikaner und ihrer Verbündeten getroffen. Aus ideologischer Feindschaft gegen den Westen.

Wie lange wird sich der IS in Syrien und Irak noch halten können?

Es wird noch lange dauern, bis der IS die Kontrolle über sein Territorium komplett verliert. Die Vertreibung der Terrormiliz aus ihren Hochburgen Rakka in Syrien sowie Mossul und Falludscha im Irak wird unglaublich schwer. Und selbst dann wird der IS nicht als militärische Organisation ausgeschaltet sein – und schon gar nicht als terroristische. Je mehr der IS sich durch die Luftangriffe unter Druck gesetzt fühlt, desto stärker wird er versuchen, sich mit Anschlägen zu entlasten. Und da agieren nicht nur die Zentrale in Syrien und Irak, sondern auch die Filialen in Libyen, Jemen und anderen Ländern.

Ist ein Ende des Konflikts in Syrien und Irak abzusehen?

Nein, der Bürgerkrieg wird anhalten. Die Truppen des Assad-Regimes sind nicht stark genug, um die Kontrolle über das ganze Land zu bekommen. Ich sehe auch keine politische Lösung. Überraschend ist dann schon, dass der Waffenstillstand einigermaßen hält. Es wirkt, dass Amerikaner und Russen sich einig sind.

Der IS hat zunächst seine Feinde in Irak und Syrien bekämpft. Warum hat er die Angriffsstrategie auf das ferne Europa ausgeweitet?

Der Kampf gegen die Europäer ist in der Ideologie des IS angelegt. Anders als Al Qaida hat der IS seine Feinde nicht nach einer Hierarchie einsortiert. Während Al Qaida sagt, wir greifen zunächst die Amerikaner an, aber nicht die Schiiten, herrscht beim IS das Prinzip: jeder, der als Feind des Islam gilt, wird bekämpft. Das sind die USA, Europa, Israel, die Schiiten, die Alawiten und alle anderen, die als ungläubig gelten. Das macht den IS zu einer so unberechenbaren Organisation. Die Luftangriffe haben allerdings auch die Motivation verstärkt, Europa zu bestrafen. Außerdem will der IS, dass der Westen Bodentruppen schickt. Die Organisation glaubt, dass sie dann bessere Chancen hat als im Kampf gegen Flugzeuge und Drohnen.

Wie instrumentalisiert der IS die Flüchtlingsströme?

Der IS hat 2015 die Chance erkannt, die sich mit der Öffnung der Balkanroute bot. Er hat Kämpfer bis nach Mitteleuropa geschickt. Ein Teil der Attentäter in Paris im November und jetzt in Brüssel ist so zu den Anschlagszielen gelangt. Europa steht nun vor dem großen Problem, dass wir nicht wissen, wieviele weitere Kämpfer geschickt wurden. Das ist eine große Herausforderung für die europäische Sicherheitspolitik.  Die Öffnung der Balkanroute für die Flüchtlinge hat eine enorme Unsicherheit bewirkt.

Warum stürzt sich der IS vor allem auf Frankreich und Belgien?

Der wichtigste Grund ist das verfügbare Personal. Weit mehr als 1000 Dschihadisten sind aus Frankreich nach Syrien gereist. Die Franzosen stellen das größte Kontingent der europäischen Kämpfer. Das macht dann Frankreich verstärkt zum Angriffsziel, zumal das Land hart gegen Dschihadisten vorgeht, wie 2013 bei der Intervention in Mali. Bei Belgien ist die Konstellation etwas anders. Von hier sind zwar auch viele Dschihadisten nach Syrien gekommen, im Verhältnis zur Einwohnerzahl Belgiens sogar die meisten aus einem europäischen Land, doch es gibt noch einen Grund. Die belgischen Sicherheitsbehörden sind bemerkenswert schwach. Deshalb ist es dort auch einfacher zu agieren als in Frankreich. Die Anschläge vom November in Paris wurden wahrscheinlich vom Brüsseler Stadtteil Molenbeek aus geplant. Das sicherheitspolitische Vakuum Belgiens zieht offensichtlich Terroristen an.

Sind nun auch gleichzeitige Attacken des IS in mehreren Ländern zu befürchten?

Die Attacken in Paris haben den IS zur derzeit prominentesten Terrororganisation gemacht, doch Al Qaida hat in der Vergangenheit Anschläge verübt, wie am 11. September 2001, die noch mehr Aufsehen erregt haben. Der IS will nachlegen. Möglicherweise mit koordinierten Anschlägen in mehreren Ländern auf symbolträchtige Ziele. Um den 11. September zu übertrumpfen.

Ist der IS in der Lage, bei Anschlägen Giftgas einzusetzen? Oder eine schmutzige Bombe mit Nuklearmaterial?

Es gibt zumindest Hinweise, dass der IS das will. Er setzt in Syrien und Irak Senfgas ein und Chlor, allerdings in kleinen Mengen. Das Interesse an unkonventionellen Kampfstoffen ist hochgradig besorgniserregend. Und eine radiologische Bombe ist das worst case scenario schon für die nächsten Monate. Beim IS sind viele ehemalige Militärs des Regimes von Saddam Hussein tätig. Die versuchen, alle Kampfstoffe zu nutzen, die sie in die Hand bekommen.

Ist die Europäische Union hinreichend gegen weitere Terrorangriffe gewappnet?

Nein. Die EU ist keine sicherheitspolitische Union. Das haben gerade die letzten Monate gezeigt. Es gibt keine umfassende Datenbank für den Schengenraum. Es mangelt der EU an gemeinsamer Datenerfassung und am Austausch von Informationen. Beim Thema Sicherheit vor Terroristen ist immer noch der Nationalstaat der entscheidende Akteur. Außerdem gibt es ein großes Gefälle zwischen den Sicherheitsbehörden der einzelnen Staaten. Länder wie Frankreich und Großbritannien haben starke Polizei und Nachrichtendienste, Deutschland liegt da im Mittelfeld. Kleinere Staaten wie Österreich, Dänemark und Belgien haben schon zahlenmäßig nur schwache Sicherheitsbehörden.

Es zeigt, wie stark der Gegner ist

Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

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Frankreich hat aber trotz seiner Sicherheitsbehörden nicht verhindern können, dass islamistische Terroristen im vergangenen Jahr gleich zweimal in Paris zugeschlagen haben . . .

Das spricht weniger gegen Polizei und Nachrichtendienste in Frankreich. Es zeigt vielmehr, wie stark der Gegner ist. Und es ist ein zusätzliches Warnzeichen, dass selbst mit starken Behörden die Anschläge in Paris nicht zu verhindern waren.

In der Brüsseler Terrorhochburg Molenbeek konnte sich der Logistiker der Anschläge vom November in Paris, Salah Abdeslam, fast vier Monate verstecken. Nur ein Versagen der belgischen Behörden oder auch der EU und ihrer Institutionen wie der Polizeibehörde Europol?

Die Arbeit der EU-Behörden hat leider keine Auswirkungen auf die Sicherheitslage in einem Land. Die Situation beispielsweise in Belgien hängt nahezu ausschließlich von den Fähigkeiten der eigenen Behörden und der Hilfe Frankreichs und der USA ab. Außerdem zeichnet sich in Belgien ab, dass das militante Milieu Unterstützung aus Kreisen jenseits des Terrorismus hat. Ein Mann wie Salah Abdeslam konnte sich auch so lange in Molenbeek versteckt halten, weil Verwandte oder Freunde ihn vermutlich unterstützten. Deutschland hat aber kein Recht, nun mit dem Finger auf Belgien zu zeigen. Obwohl die deutschen Behörden besser funktionieren als die belgischen, zeigt nicht nur der Fall der rechtsextremen Terrorzelle NSU, welche Probleme sie haben.  

Warum ist Deutschland besser aufgestellt? Immerhin gab es hier bislang nur einen tödlichen Anschlag - den des Kosovaren Arid Uka, der im März 2011 in Frankfurt zwei US-Soldaten erschoss…

Die deutschen Sicherheitsbehörden haben relativ viel Personal. Und die Koordination der Bekämpfung des Dschihadismus ist seit der Gründung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums im Jahr 2004 viel besser geworden. Das GTAZ ist eine Erfolgsgeschichte. Dennoch gibt es Anlass zur Sorge. Mehr als 800 Dschihadisten, Männer und Frauen, sind bereits nach Syrien gegangen. Ohne größere Probleme. Das ist eine sicherheitspolitische Katastrophe. Von den Leuten, die zurückkommen, ist zumindest ein Teil kampferfahren, gut ausgebildet und hoch motiviert. Das hätte in diesem Ausmaß nie passieren dürfen. Es zeigt, dass in Deutschland die Früherkennung der Radikalisierung von Muslimen und ihrer Absichten nicht gut genug funktioniert. Und das ist eher ein Problem der Nachrichtendienste als der Polizei.

Was müsste in der EU geschehen, um die Terrorgefahr stärker eindämmen zu können?

Ich glaube, dass es keine europäische Lösung geben wird, sondern zunächst einzelne Staaten professioneller und stärker werden müssen. Mehr Austausch von Informationen mit Belgien bringt nicht viel, wenn die Behörden dort schwach sind. Außerdem kommen wir in die Situation, dass uns die Amerikaner mehr helfen müssen. Ohne die USA hätte es in Deutschland mehr als nur einen tödlichen Anschlag gegeben.

Und was müsste in Deutschland geschehen?

Die Sicherheitsbehörden, insbesondere die Nachrichtendienste, müssen gestärkt werden. Und einige Bundesländer müssen in puncto Ausreise von Dschihadisten umdenken. Ich habe den Verdacht, dass mancher Fall stillschweigend geduldet wurde – Hauptsache, der militante Salafist war weg. Es ist jedenfalls nicht zu begreifen, dass Dschihadisten so einfach ausreisen konnte, obwohl es erklärte Politik war, Ausreisen zu verhindern.

Der Zustrom von Dschihadisten aus Deutschland nach Syrien wird allerdings schwächer. Und in die pakistanische Terrorhochburg Wasiristan fährt keiner mehr. Nimmt die Reiselust der Salafisten ab oder orientieren sie sich neu, zum Beispiel in Richtung Libyen?

Ich kenne bislang keine Hinweise auf Ausreisen in Richtung Libyen. Und dass die Touren in Richtung Syrien und Irak weniger werden, liegt auch an der numerischen Begrenzung der salafistischen Szene. Von denen, die gehen wollten, sind viele inzwischen weg. Ich schätze, das Rekrutierungspotenzial für Dschihadisten liegt in Deutschland bei 1000 bis 2000 Personen. Das betrifft die ausreisewilligen wie diejenigen, die von hier aus zum Erfolg des Dschihad beitragen wollen, sei es mit Propaganda oder Geld.

Wächst mit dem militärischen Druck auf den IS die Gefahr, dass militante Salafisten in ihren Heimatländern bleiben, um gleich hier als „homegrown terrorists“ Anschläge zu verüben?

Auf jeden Fall. Aber nicht nur, weil der militärische Druck zunimmt. Es wird für Dschihadisten auch schwieriger, sich in der Türkei zu bewegen. Die Repression dort hat zugenommen. Und der Gang über die Grenze nach Syrien ist nicht mehr so einfach, da der IS da inzwischen weniger Territorium kontrolliert. Der IS sagt zudem in seiner Propaganda, wer die Ausreise nicht schaffe, solle Anschläge im Heimatland versuchen. Womöglich kam das auch bei dem 15-jährigen Mädchen an, das Anfang März in Hannover einem Bundespolizisten in den Hals gestochen hat. Die Jugendliche hatte zuvor erfolglos versucht, nach Syrien zu kommen.

Sie haben 2009 in einem Interview des Tagesspiegels prophezeit, es werde keine Generation mehr dauern, bis sich das Terrorproblem erledigt hat. Sehen Sie das heute auch noch so?

Ich habe damals weit unterschätzt, wozu der Vorläufer des IS, die Al-Qaida-Filiale im Irak, fähig sein würde. Am meisten überrascht hat mich allerdings der enorme Erfolg der IS-Ideologie. Sie ist noch hemmungsloser als die der Al Qaida. Beim IS haben wir es mit prinzipiellen Hass auf alle Feinde des Islam zu tun. Al Qaida ist pragmatischer, geht auch in Syrien Kompromisse ein. Das kommt für den IS nicht infrage. Und es muss uns zu denken geben, dass es in Deutschland und Europa eine große Szene von Sympathisanten gibt. Ich würde heute keine Prognose mehr wagen, wann sich das Terrorproblem erledigt haben könnte.

Guido Steinberg ist Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Das Interview führte Frank Jansen.

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