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Theatermacher Sewan Latchinian

© Neue Bühne / Steffen Rasche

Theatermacher Sewan Latchinian: Rolle rückwärts

Die Stücke, zehn Stunden lang. Aus Stoffen, die sonst keiner auf die Bühne bringt. Aber fast jede Vorstellung ausverkauft. Theatermacher Sewan Latchinian lockt die Zuschauer nach Senftenberg. Ein Überflieger, der die Provinz gegen die Karriere tauschte.

Es ist nicht so, dass Sewan Latchinian besonders vertrauenswürdig aussieht. Ein Skinhead? Aber selbst dort, wo der Osten am tiefsten ist, muss man sich nicht in jedem Fall vor denen fürchten, denen ein geregelter Haarwuchs fehlt. Als sei das Restfell auf dem Kopf schon ein verlässliches Anzeichen von Zivilisation, als sei die Menschwerdung nicht erst mit dem Haarausfall des Homo sapiens ernsthaft vorangeschritten.

Aber der Mann hat auch keine Augenbrauen.

Und keine Wimpern.

Das ist es. Ein Lidschlag ohne Wimpern ist schon fast keiner mehr. Er ist viel ungeschützter. Unser Lidschlag macht, dass wir die Welt nicht anstarren müssen, und alles, vor dem man die Augen nicht schließen kann, ist schon der Schrecken.

„Folgen Sie mir, ich bekomme jetzt Haare!“, sagt der Intendant des Theaters Senftenberg und weht durch die Flure der einstigen Sporthalle.

Senftenberg ist klein, es hat nicht einmal ein Kino. Nur lauter längst stillgelegte Tagebaue drum herum. Senftenberg, die beinahe schon stillgelegte Stadt. Und wozu brauchte es noch ein „Theater der Bergarbeiter“, wenn es längst keine Bergarbeiter mehr gab?

Er kam gewissermaßen im vorletzten Augenblick, das war vor zehn Jahren. Und jetzt strömen sie aus Berlin, München und Hamburg zu Sewan Latchinians „Glückauf“-Festen. Provinztheater wie Bayreuth. Aber das hier dauert länger als jede Wagner-Oper. Zehn Stunden. Elf mal zehn Herbst-Stunden, und in diesem November fast jedes Mal ausverkauft.

Wir erreichen die Maske. Der Intendant hat alle Stücke inszeniert. In dem nach der Pause spielt er auch selbst, ganz allein, schon weil alle anderen in den übrigen beschäftigt sind. Und, sagt er, weil er diese Rolle keinem zumuten könne. Niemandem als sich selbst.

Maske und Garderobe sind wie die leise Seele eines Theaters. Schlaff hängen die Mäntel, teilnahmslos harren die Hüte, die Toupets, die gestern noch ein Schicksal bargen und darauf warten, dass alles wieder anfängt. Unter den leichten Händen der Maskenbildnerin bekommt Sewan Latchinian erst Haare, dann Augenbrauen und zuletzt sogar Wimpern. Und dabei erklärt er, halb liegend, wie er sie einst verlor. Da war er siebzehn.

Sewan Latchinian: Mauerjahrgang 1961. Wer studieren wolle, müsse drei Jahre zur Armee, mindestens, teilte die DDR ihren Abiturienten mit. Es war die Zeit von Nato-Nachrüstung, von Pershing II und SS 20. Der Leipziger Schüler Sewan Latchinian fand das trotzdem grundfalsch. Sie hatten kaum die Startbahn des Lebens betreten und sollten noch drei Jahre am Boden bleiben? Er war dagegen und erklärte es allen, die es hören wollten und den anderen auch. Denn ihm war schon immer sehr aufrichtig zumute gewesen. Mitten in der DDR. Das lag nicht zuletzt an seinen Eltern.

Sewan Latchinian bekommt die erste Augenbraue.

Er ist der Sohn eines armenischen Vaters, dessen Eltern die von den Türken erzwungenen Todesmärsche in die mesopotamische Wüste nur knapp überlebten. Seine Mutter ist das Mädchen, das 1949 das beste Abitur von ganz Weimar ablegte und trotzdem nicht studieren durfte, denn sie glaubte an Jesus Christus. Außer an die Existenz Gottes glaubte sie aber auch an die Existenz einer irdischen Elementargerechtigkeit, weshalb sie an den soeben gewählten, ersten Präsidenten der DDR schrieb. Ihre Frage an Wilhelm Pieck lautete: Ist das gerecht?

Der Präsident lud die junge Irrläuferin des Glaubens zu sich ein und gab zu: Nein, gerecht sei das nun gerade nicht. Was möchte sie denn gern studieren? – Vielleicht etwas mit Sprachen, mit Literatur?, antwortete die Bestschülerin nach kurzer, überraschter Prüfung von Herz und Hirn. Zwei Wochen später hatte sie einen Studienplatz für Slawistik: in Bulgarien.

An dieses Land und seine Sprache hatte sie nicht im Traum gedacht, aber hier traf sie den Überlebenden eines Völkermords, der zwecks Vorbereitung einer besseren Welt politische Ökonomie studierte. Sie vereinigten ihre Leben, ihre Hoffnungen, ihre Unbeugsamkeiten.

Leben ist vor allem eins: Aufrichtigkeit. So hat es beider Sohn an dem unwiderlegbarsten Beispiel erfahren, das einem Menschen begegnen kann: an seinen Eltern. Anders konnte er nicht denken. Und hat es im Grunde bis heute nicht gelernt.

Das ist seine Stärke, das ist seine Schwäche. Also erfuhr auch der Sohn der Leipziger Stadtschulrätin, wie es um Sewan Latchinians Wehrbereitschaft im Jahr 1979 bestellt war. „Und dann stand mitten im Englisch-Unterricht plötzlich der Direktor in meiner Klasse und verlas einen Brief der Stadtschulrätin: Ich sei der DDR und des Sozialismus unwürdig, unwürdig, das Abitur zu machen“, sagt der Senftenberger Intendant.

Er trägt inzwischen über zwei Brauen eine diskret gescheitelte Schüttelfrisur, wie sie aufstiegswillige Männer in Vorstandsetagen bevorzugen. Gleich muss er auf die Bühne. Jeder in der Klasse, der der gleichen Meinung sei wie die Stadtschulrätin, möge die Hand heben, forderte der Schuldirektor. Der 17-Jährige sah einen Arm nach dem anderen sich heben, er selbst aber fiel ins Bodenlose.

Eine Woche später zeigten sich große kahle kreisrunde Flecken auf seinem Kopf, kurz darauf fehlten auch Augenbrauen und Wimpern. Er hatte schon einen Studienplatz an der Ernst-Busch-Schauspielschule in Berlin. Würden sie ihn da noch nehmen? Ohne Abitur und ohne Haare?

Sewan Latchinian zupft an seinem blauen, leicht grün gestreiften Anzug. Ein Tausend-Euro-Modell, Vorstandsvorsitzenden-Look, aber sie haben es irgendwo vor Stuttgart im Ausverkauf für 300 Euro bekommen. Der Schlips leuchtet rot-braun, die Verwandlung in den Manager Johann Holtrop ist abgeschlossen. Die Kostümbildnerin befestigt das Jackett von innen an der Hose des Intendanten, so bleibt der Anzug korrekt und in Form, selbst wenn sein Träger noch die letzte verloren haben wird.

„Johann Holtrop“ ist ein Roman von Rainald Goetz und handelt vom Sinkflug, nein, vom Atemstillstände auslösenden Absturz der Hauptfigur. Goetz hatte keine Inszenierung, nur eine Lesung erlaubt.

Der Intendant betritt, Goetz’ Buch unterm Arm, die Bühne. Er wird sich daran halten: Lesen, lesen, nochmals lesen! Zwei Kästen. In dem einen sitzt Latchinian-Holtrop und liest. Im zweiten auch, aber das ist schon die Projektion einer Kamera.

Am Anfang zeigen beide Kästen das gleiche Bild. Doch jede Nuance des Gleichgewichts, dass der Manager verliert, teilt sich dem Körper des Vortragenden mit. Die Welt steht auf dem Kopf? Nein, nur der Intendant. Und liest. Und geht die Wände hoch. Und liest weiter. Latchinian-Holtrop setzt alle Regeln der Schwerkraft außer Kraft und je abenteuerlicher seine Position im Raum wird, desto normaler, plausibler, erdanziehungsverhafteter erscheint sie im zweiten Kasten.

Und Latchinian liest weiter.

Der Prorektor zeigte auf den kahlen Kopf und fragte, was das denn sei

Die etwas andere Lesung. Sewan Latchinian arbeitet sich durch Rainald Goetz' Manager-Porträt "Johann Holtrop".
Die etwas andere Lesung. Sewan Latchinian arbeitet sich durch Rainald Goetz' Manager-Porträt "Johann Holtrop".

© Neue Bühne / Steffen Rasche

Er hat nichts als einen Koffer, eine Flasche Wasser und sein Buch. Ovationen. Was eine Lesung ist, wird man nach diesem Abend neu definieren müssen.

Am nächsten Morgen sitzt ein sichtlich gelöster Intendant ohne eine Spur von Müdigkeit in seinem Büro. Natürlich ist er auch diesmal bis zum Schluss geblieben, genau wie das Publikum. Von nachmittags um vier bis nachts nach zwei sah es Latchinians Bearbeitungen eines für die Bühne denkbar ungeeigneten Essays – Ingo Schulzes „Des Kaisers neue Kleider“ – , eines für die Bühne denkbar ungeeigneten Traktats – Volker Brauns „Die hellen Haufen“ – sowie eines für die Bühne denkbar ungeeigneten Romans, dessen Inszenierung untersagt war.

Sewan Latchinian, einst Miterfinder der Baracke des Deutschen Theaters in Berlin, damals, als noch kein Mensch den Namen Ostermeier kannte, ist in der Provinz zum Überflieger geworden. Und hätte er damals Ja gesagt, als das Deutsche Theater ihm die Baracken-Leitung an- und nachtrug, hätte vielleicht kein Mensch erfahren, wer Thomas Ostermeier ist oder zumindest nicht so schnell. Aber er sagte Nein und ergänzte: Ich gehe in die Provinz!

Das war natürlich Hochmut. Alle Überflieger glauben, dass die Provinz grundsätzlich dort ist, wo sie gerade nicht sind. Wer in die Provinz geht, wird in der Provinz umkommen, mahnten die Hauptstädter aus Berufung. Zuerst war er in Neuss, im fernsten Westen. Der alte Intendant von Neuss hatte ihn dorthin gelockt, mit einem Argument, gegen das Latchinian vollkommen wehrlos war: Erst in der Provinz werde der Mensch wirklich erwachsen!

Über ihm hängt das Ölbild eines Schiffbruchs. Im Vordergrund schwimmt ein Rettungsboot. Aber wahrscheinlich sinkt das Rettungsboot zuerst, der Schlagseite nach zu urteilen. Latchinian hat das Bild, gleich nachdem er hier ankam, aus dem Fundus geholt.

Die Metapher gefiel ihm: Leben als Schiffbruch auf Raten, als aufgeschobener Untergang. Jetzt schaut er es manchmal nachdenklich an, wie alles hier in Senftenberg. Denn er geht gleich weg. Nach Rostock, ausgerechnet nach Rostock. Aus lauter Überfliegerübermut?

Seit 1990 sind an der Ostsee alle Intendanten gekentert. Anders als die Senftenberger lieben die Rostocker ihr Theater eher nicht, die Politiker noch weniger. Außer dem eines Kostenfaktors hat es keinen Ruf mehr zu verlieren, das ist nicht zuletzt ihr Werk.

Nein, Rostock besitzt kein gutes Karma. Natürlich ist Rostock viel weniger Provinz als Senftenberg, dürfte man vermuten, aber es gibt auch eine geistige Provinz. Geistige Provinzen entstehen, wo Selbstzufriedenheit, eine gewisse Bedürfnislosigkeit und ritueller Argwohn aufeinandertreffen. Latchinian kennt alle Einwände, er schaut hoch zum Schiffbruch über ihm und wiegt den Kopf bedächtig wie ein schlafendes Meer kurz vorm Aufwachen.

Er liebt sein Senftenberg. Und vielleicht könnte er allem widerstehen, außer dem schwierigsten, dem aussichtslosesten Fall. Wie sah es denn hier aus, als er vor zehn Jahren eintraf? Ein Resttheater kurz vor der Schließung; er hat es nicht einmal gefunden. Er ist mit dem Bus vom Bahnhof durch die Stadt gefahren, irgendwo musste er doch am Theater vorbeikommen, vielleicht am Marktplatz, aber dann war er schon wieder am Bahnhof. Die Ex-Turnhalle lag abseits zwischen den Neubaublöcken. Zwei Jahre später waren sie „Theater des Jahres“. Inzwischen führen alle Wege, weisen alle Litfaßsäulen in der Stadt zum Theater.

Rostock? Es gibt nichts, was Sewan Latchinian bisher widerstanden hätte. Sogar die Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik war nicht mehr ganz dieselbe, als er wieder weg war.

In der NVA herrschte die Diktatur der „E“s, das waren die Entlassungskandidaten, letztes Diensthalbjahr. Die „E“s kannten viele Spiele, ein besonders beliebtes hieß „Kanadischer Winter“. Man brauchte dazu sechs Packungen Waschpulver, bei deren Verwendung als Fußball sich ihr Inhalt gleichmäßig über die Flure verteilte. Noch etwas Wasser, und fertig war der „Kanadische Winter“. Ein Neuer, ein Eben-erst-Ankömmling, ein Novize dieser Armee-Hölle musste ihn nun beseitigen.

Einer! Immer nur einer!

Ihn traf es nicht, trotzdem stand Sewan Latchinian starr, mit Spontan-Erfrierungen von innen im „Kanadischen Winter“. Haarausfall war keine mögliche Option mehr. Er trat unter den ungläubigen, fassungslosen Blicken der „E“s zu dem Unglücklichen, den es getroffen hatte. Zögernd folgten zwei andere. Sie haben den „Kanadischen Winter“ zu viert beendet. Das gab es noch nie.

„Ich habe damals einen Roman begonnen, ich dachte, die Welt müsse erfahren, was hier vorgeht“, erklärt Latchinian mit dieser seltsamen Mischung aus Naivität und Mut, aus der letztlich auch das Theater kommt. „Als ein ,E’ die Seiten fand, hielt er sie über die Kloschüssel und ließ sie vor meinen Augen in die Pisse fallen“, sagt der Intendant und versteht heute noch nicht ganz die Wucht, mit der er seine Faust im Gesicht des Literaturverächters landen sah. So als gehöre sie gar nicht ihm. Beide, der Schläger wie der Geschlagene, waren sehr überrascht. Die Ankündigung des Getroffenen, ihn nun mit seinem Panzer zu überfahren, verlor erst etwas von ihrer Brisanz, als Latchinian zu einer Tauchereinheit abkommandiert wurde, die ihre Tage in der damals noch nachtschwarzen Elbe verbrachte. Er wurde Sprengtaucher.

Das Theater ist nicht zuletzt eine Möglichkeit, den Menschen und der Welt nicht ins Gesicht zu schlagen und immer neu aufzutauchen, noch aus den dunkelsten Flüssen. Nein, er konnte sich nie etwas anderes vorstellen als das Theater, seitdem sein Deutschlehrer bei Goethes „Faust“ auf ihn und fünf andere gezeigt hatte: Auerbachs Keller! Ihr spielt das! Vier Wochen Probenzeit!

Doch als der Reformator der NVA ohne Haare zum Studienbeginn in Berlin an der Ernst-Busch-Schauspielschule eintraf, schauten ihn alle fassungslos an, von der Sekretärin bis zum Lehrkörper. „Am Abend stand der Prorektor in meiner Tür, zeigte auf meinen Kopf und fragte: Was ist das?“ Sewan Latchinian begann wie um sein Leben zu reden, er vermutete laut, dass Hamlet gewiss auch keine Haare mehr besaß, Shakespeare hätte nur vergessen, es zu notieren, und was heiße hier eigentlich „jugendlicher Liebhaber“? Der Prorektor ging, tief beunruhigt. Und erst nach einer Anhörung vor dem gesamten Lehrkörper ließ dieser sich überreden, Sewan Latchinian doch zu immatrikulieren, wenn auch nur für ein halbes Jahr. Auf Probe.

Gibt es eine Intendanz auf Probe? Rostock, das sind vier Sparten, er will sie alle zusammenführen, Schauspiel, Orchester, Oper und Tanz. Er weiß auch schon, wie er seine erste Spielzeit beginnt. Natürlich mit einem großen Spektakel. Ahoi-Fest, sagt der Sprengtaucher unter dem Schiffbruch, darf das natürlich nicht heißen. Aber zehn Stunden kann es schon dauern.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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