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Thüringen: NSU-Ausschuss offenbart Chaos bei den Schlapphüten

Blick zurück im Zorn: Vor dem Untersuchungsausschuss zum Neonazi-Terror beklagt ein Ex-Verfassungsschützer aus Thüringen die Zustände in seiner Behörde.

Norbert Wießner (65) ist Beamter im Ruhestand. Er wohnt nicht mehr in Erfurt, wo er acht Jahre für den Verfassungsschutz als Beschaffer von Informationen und Werber von V-Leuten tätig war. So wie Wießner am Montag vor dem Thüringer Untersuchungsausschuss zum Rechtsterror auftrat, kann man schlussfolgern, dass er im Zorn gegangen ist. „Es ist so viel schiefgelaufen in der Führung“, beklagte er mit Blick vor allem auf den schillernden Ex-Präsidenten Hartmut Roewer. Als der in der Uniform des Erste- Weltkrieg-Generals Erich Ludendorff posierte, habe man sich gefragt, ob er jetzt ein Fall für die Irrenanstalt ist. Ähnlich verstörend muss auf die Mitarbeiter gewirkt haben, dass der Präsident laut Wießners Schilderung mit dem Fahrrad in der sechsten Etage herumfuhr.

„Es war letztlich ein ziemlich chaotischer Zustand damals in den 90er Jahren“, gab selbst Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) am Montag im ZDF zu. Sie forderte, den Verfassungsschutz in Deutschland von Grund auf neu aufzubauen. Fraglich sei, ob künftig 16 verschiedene Ämter notwendig seien.

Ex-Schlapphut Wießner hat 1994 Tino Brandt als Quelle angeworben und nach einer Unterbrechung ab 1998 geführt. Brandt hat den rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“ aufgebaut und geleitet. Rund 35 Strafverfahren, so berichtete der Geraer Staatsanwalt Gerd Michael Schultz vor dem Landtags-Untersuchungsausschuss, habe die Justiz gegen Brandt geführt. Aber hinter Gitter bekam sie ihn nie. „Es ist eine äußerst ärgerliche Sache, wenn einer unserer Hauptgegner V-Mann ist“, befand auch Schultz’ Kollege Ralf Mohrmann.

Wießner bereitete das offenbar keine Gewissensbisse. Vielmehr führte er den Umgang mit Brandt nach dessen Enttarnung im Jahr 2001 als Beleg für das Unvermögen der Amtsführung an. „Mich ärgert es, wie mit einer Quelle, die sieben Jahre gute Informationen geliefert hat, umgegangen wurde.“ Brandt sei in kein Schutzprogramm gekommen, allerdings habe er das auch selbst abgelehnt. Dass er an seinem Wohnort weiterleben konnte, erklärt sich Wießner mit der von Brandt verbreiteten „Legende“, wonach er den Lohn des Verfassungsschutzes in seine Organisation gesteckt habe. Der V-Mann-Führer legte stattdessen nahe, dass Brandt („ein Technik-Freak“) die stattlichen Summen in Handys, Computer und Kameras gesteckt hat. Zudem habe er etliche Autos kaputt gefahren. Brandt sei ein „Spitzenverdiener“ gewesen. Er soll insgesamt 200 000 D-Mark kassiert haben. Dass der Zuträger fingierte Informationen geliefert haben könnte, wie ein Abgeordneter mutmaßte, schloss Wießner aus. „Er hat jede Woche auf höchstem Niveau berichtet“, sagte er.

Brandt, dessen Tätigkeit als V-Mann eine Ursache war, warum das NPD-Verbotsverfahren scheiterte, hätte nicht als Zuträger arbeiten dürfen. Dafür war seine Stellung viel zu prominent. Das räumt auch Wießner heute ein. „Er hat sich entgegen der Anweisung zum NPD-Landesvize wählen lassen“, sagte er. Aber warum wurde die Quelle danach nicht abgeschaltet, fragten die entsetzten Parlamentarier? Wießners Antwort: „Weil wir sonst keine Zugänge gehabt hätten.“ Demnach war Brandt der einzige Informant im „Thüringer Heimatschutz“. Die NSU-Zelle Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe geriet nach Angaben von Ex-Verfassungsschützer Wießner erst ins Blickfeld des Dienstes, nachdem es Anfang 1998 abgetaucht war.

Seinen wichtigsten Zeugen ließ der Ausschuss am Montag vier Stunden lang „schmoren“. Entsprechend gereizt startete Thüringens Ex-Verfassungsschutzpräsident Helmut Roewer am Montagabend in seine Vernehmung. Nicht nur die Ausschussvorsitzende Dorothea Marx (SPD) holte sich erst einmal eine Abfuhr für die Frage, ob der Verfassungsschutz auch die Polizei über Erkenntnisse informiert habe. „Ja“, war die kurze Antwort. Der im Jahr 2000 suspendierte heute 63-Jährige, der seinen Beruf mit „Schriftsteller“ angibt, verteidigte sein Amt phasenweise mit den fast gleichen Worten wie die vor ihm vernommenen Beamten - die aber zu seinen heftigsten Gegnern Ende der 90er Jahre gehört hatten. Nein, das Amt habe V-Leute nicht vor bevorstehenden Polizeirazzien gewarnt. Nein, die Information zwischen Verfassungsschutz und Polizei sei keine Einbahnstraße in Richtung Nachrichtendienst gewesen, sagte Roewer wie die anderen Beamten. Polizisten hatten vor dem Ausschuss in beiden Punkten bisher das Gegenteil als Verdacht geäußert.

Die Atmosphäre blieb gereizt. In Unterlagen blätternde oder scheinbar weghörende Abgeordnete verleiteten Roewer genauso zu bissigen Kommentaren wie die Frage nach den genauen Umständen der Übergabe seiner Ernennungsurkunde kurz vor Mitternacht. Die spätere NSU-Terrorzelle kam nur am Rande zur Sprache, da der Ausschuss zunächst nur die Zeit bis zum Untertauchen des aus Jena stammenden Trios im Januar 1998 untersucht. mit dpa

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